Die
Kunst, mit den eigenen Grenzen zu leben
+++ Studie vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung +++ Artikel-Nr.:
419
Studien aus dem sensomotorischen Labor am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin zeigen: Mit zunehmendem
Alter erfordert das Halten des körperlichen Gleichgewichts mehr Aufmerksamkeit
und kognitiven Einsatz als in jungen Jahren. Ältere Menschen, die dies
rechtzeitig erkennen, können nicht nur Stürze besser vermeiden, sondern auch
sicherstellen, dass ihr "Intelligenzkonto" für andere Denkleistungen
möglichst groß bleibt.
"Wenn ich aus meinem Sessel aufstehe, muss ich mich einen Moment ganz
darauf konzentrieren. Während dieser Zeit bleiben meine anderen Denkvorgänge
quasi stehen. Früher hätte ich dagegen sicher nie einen Gedanken an so etwas
Selbstverständliches wie das Aufstehen verschwendet," sagt Professor Paul
Baltes und schildert damit ein Phänomen, das viele ältere Erwachsene an sich
selbst beobachten können. Im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie der
Lebensspanne am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin
untersuchen Baltes, Dr. Ralf Krampe und ihre Mitarbeiter, wie Menschen ihre
Aufmerksamkeit verteilen, wenn sie gleichzeitig mehrere Aufgaben bewältigen müssen.
Diese Aufmerksamkeitsverteilung verändert sich im Lauf des Lebens. Baltes erklärt
dies mit der Metapher des Intelligenzkontos: Mit dem Alter schrumpft das
Guthaben auf diesem geistigen Konto insgesamt, doch außerdem beanspruchen
motorische Aufgaben zunehmend mehr kognitive Kapazitäten. Aus diesem Grund
stehen für gleichzeitig mit der Motorik stattfindende geistige Leistungen
weniger Ressourcen zur Verfügung.
Das Alter ist gewöhnlich von deutlichem Nachlassen der Sehschärfe, des Gehörs
und des Gleichgewichtssinns begleitet und zwischen diesen sensomotorischen
Funktionen und der Intelligenz besteht in der Regel auch ein enger Zusammenhang.
Dies zeigte bereits die großangelegte Berliner Altersstudie unter der Federführung
des MPIB in Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Doch ob Motorik und Intelligenz gemeinsam durch den Alterungsprozess des Gehirns
leiden oder ob bei nachlassenden Sinneskräften das Intelligenzkonto stärker
durch die Bewahrung des Gleichgewichts belastet wird, blieb unklar und wird nun
mit neuen Experimenten im sensomotorischen Labor am MPIB ermittelt.
In diesem Labor arbeitet der Psychologe Krampe mit zahlreichen freiwilligen
Teilnehmern, von jungen Studenten bis zu hochbetagten Menschen, und misst, wie
ihre motorischen und kognitiven Leistungen abnehmen, wenn die Probanden
gleichzeitig motorische und geistige Aufgaben bewältigen müssen. An der jüngsten
Versuchsreihe nahm auch eine Gruppe von Alzheimer-Patienten zwischen 60 und 80
Jahren teil, die von dem Mediziner Michael Rapp im Rahmen seiner Doktorarbeit
betreut wurden. Die Anforderungen waren hoch: Versuchsteilnehmer mussten
beispielsweise auf einer wackelnden Plattform ständig ihr Gleichgewicht
austarieren und sich gleichzeitig eine Zahlenfolge einprägen. Oder sie mussten
so schnell wie möglich einen engen, gewundenen Parcours entlang laufen, während
sie Wörter erinnerten oder Rechenaufgaben lösten.
Bei beiden Gruppen wurde die Gedächtnisleistung im Sitzen und beim Laufen oder
Balancieren gemessen. Wie erwartet fiel es jüngeren Personen deutlich leichter
als den Älteren, beide Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen, denn bei dieser
Altersgruppe ist die Motorik hochgradig automatisiert und beansprucht das
Intelligenzkonto kaum. Frühere Studien aus dem Labor von Paul Baltes hatten
bereits ergeben, dass junge Menschen in ihrer Gedächtnisleistung während des
Laufens um etwa 25 % nachlassen, während ältere Versuchspersonen fast 40 %
weniger Worte erinnern, wenn sie währenddessen auch noch gehen müssen. Sowohl
die jüngeren als auch die älteren Teilnehmer liefen den Weg um etwa 15 %
langsamer, wenn sie mit Gedächtnisaufgaben beschäftigt wurden. Beim Gehen
trugen die Versuchspersonen speziell entwickelte Sensorhandschuhe, die bei jedem
stützenden Griff zum Geländer ein Signal gaben, auch die Zahl der Fehltritte
wurde genau gemessen.
Die Ergebnisse zeigen, dass ältere Menschen ihr Intelligenzkonto tatsächlich
vorwiegend mit der motorischen Aufgabe belasten und dadurch schlechtere
Leistungen bei der Gedächtnisaufgabe erzielen. Dies sei gut nachvollziehbar und
sozusagen adaptiv, sagt Ralf Krampe. Denn dadurch kompensieren sie
altersbedingte Schwächen wie die nachlassende Sehschärfe, die beispielsweise
auch für die Orientierung im Raum und damit den Gleichgewichtssinn wichtig ist,
sowie ihre abnehmende Muskelkraft und die geringere Beweglichkeit. Außerdem ist
es für Ältere viel gefährlicher, einen Sturz zu riskieren. Indem sie sich bei
Doppelanforderungen stärker auf die körperliche Aktivität konzentrieren,
vermeiden sie Stürze.
Wie die neuesten Studien aus dem Labor belegen, können Menschen auch gezielt
entweder der motorischen Aufgabe oder der mentalen Aufgabe mehr Aufmerksamkeit
widmen. Viele ältere Menschen wählen für geistige Aufgaben eine stabile,
ruhende Position, damit ihnen genügend Ressourcen ihres Intelligenzkontos zur
Verfügung stehen. Bei Doppelanforderungen sind ältere Menschen jedoch weniger
flexibel in der Verteilung ihrer Intelligenzressourcen als jüngere, weil sie
dazu tendieren, ihr Gleichgewicht zu schützen. Alzheimerpatienten gelingt dies
allerdings weniger gut als gesunden Menschen gleichen Alters, zeigt die Studie
ebenfalls. Alzheimerkranke stürzen rund dreimal häufiger als gesunde Menschen
gleichen Alters. "Alzheimerkranke können ihre Aufmerksamkeit nur schwer
gezielt einsetzen" vermutet Krampe. Dieses psychologische Handicap passt zu
Erkenntnissen der medizinischen Forschung, nach denen die Alzheimerdemenz
bereits im Frühstadium durch einen Mangel des Botenstoffes Acetylcholin
gekennzeichnet ist. Dieser Botenstoff ermöglicht die synaptischen Verbindungen
zwischen dem vorderen Stirnhirn, wo die Kontrollfunktionen verankert sind, und
den Basalganglien, die die Motorik steuern. Der Mediziner Michael Rapp sieht die
Ergebnisse der sensomotorischen Studie als weiteren Beleg dafür, dass
Alzheimerkranke von Medikamenten profitieren, die den Botenstoff Acetylcholin
verstärken.
Die Ergebnisse der Studie können auch in die Entwicklung neuer
Trainingsprogramme für Alzheimerpatienten einfließen, um ihre vorhandenen
Kompetenzen länger zu erhalten. "Ablaufschemata für häufige Tätigkeiten
könnten das Sturzrisiko senken", meint Rapp. Allerdings warnt er davor,
die Patienten mit zu hohen Anforderungen zu frustrieren. Gesunde Menschen können
dagegen auch noch im hohen Alter sowohl ihren Gleichgewichtssinn als auch
bestimmte geistige Fähigkeiten trainieren und auch die Fähigkeit verbessern,
zwei Dinge gleichzeitig zu tun. "Je fitter ältere Menschen im körperlichen
Bereich sind, je besser sie sehen, hören und das Gleichgewicht halten können,
desto größere Anteile ihres Intelligenzkontos stehen ihnen für andere Tätigkeiten
zur Verfügung", fasst Baltes die Ergebnisse zusammen.
Von Dr. Antonia Rötger, Veröffentlichung
des Max-Planck-Institut
für Bildungsforschung, Berlin
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