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Alzheimer-Demenz: Angehörige und Patienten von Leistungsdruck entlasten

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Interview mit Prof. Dr. med. Joachim Bauer, Freiburg

Zu den deutschen Demenz-Experten gehört Prof. Dr. med. Joachim Bauer. Der Freiburger Psychiater und Internist hat sich nicht nur mit den biologischen und pharmakotherapeutischen, sondern auch mit psycho-sozialen Aspekten der Demenz eingehend beschäftigt. Demenz-Spektrum (DS) hatte die Gelegenheit, den süddeutschen Wissenschaftler zu befragen, welche praktische Relevanz seine Erkenntnisse für Angehörige Demenz-Kranker haben.

DS: Herr Prof. Bauer, in Ihrem neu erschienenen Buch "Die Alzheimer-Krankheit" weisen Sie auf die Wichtigkeit hin, Alzheimer-Patienten motivational, kognitiv und körperlich, sozusagen "multimodal" zu aktivieren. Warum bezweifeln Sie zugleich, daß die häuslichen Bezugspersonen der Patienten nicht in der Lage sind, diese sachgerecht zu aktivieren?

Prof. Bauer: Unsere Beobachtungen sprechen dafür, daß häusliche Bezugspersonen Aktivierungsübungen in vielen Fällen ungeduldig, mit zu hohen Erwartungen und oft unter Leistungsdruck durchführen. Ein solcher Leistungsdruck, unter den sich die Angehörigen meistens selbst stellen, überträgt sich auf die Patienten. Für diese sind unter Leistungsdruck durchgeführte Aktivierungsmaßnahmen jedoch absolut kontraproduktiv, ja oft verschlechtert sich ihr Zustand dadurch nur weiter.

Man sollte deshalb das häusliche Umfeld der Kranken nicht überfordern, indem man ihm die Aufgabe überträgt, den Patienten therapeutisch zu aktivieren. Allen Beteiligten ist mehr geholfen, wenn der Alzheimer-Kranke, idealerweise mehrmals in der Woche, einen halben Tag in einer spezialisierten Tagesstätte verbringt, wo ihn dann ausgebildete Pflegekräfte, Krankengymnasten oder Psychologen multimodal aktivieren. Allerdings sind solche ambulanten Angebote noch sehr rar.

DS: Alzheimer-Patienten leiden oft unter nächtlichen Unruhezuständen und belasten damit ihre Angehörigen erheblich. Mit welchen relativ einfach umzusetzenden Empfehlungen kann man die häusliche Betreuung solcher Patienten erleichtern?

Prof. Bauer: Die einfachste und wichtigste Maßnahme besteht darin, die Kranken am Tage körperlich und sozial zu aktivieren, Tagesschlaf ("Nickerchen") zu unterbinden und die nächtliche Bettzeit auf 7 bis 8 Stunden zu begrenzen. Die beruhigenden Effekte einer sogenannten Lichttherapie (zweistündiges "Lichtbad" bei einer Lichtstärke von 2.000 Lux) werden sich im häuslichen Bereich nur selten erzielen lassen. Allerdings kann man in diesem Sinne schon etwas bewirken, indem man darauf achtet, daß sich Demenz-Kranke tagsüber in ausreichend hellen Räumen aufhalten, während sie die Nacht in wirklicher Dunkelheit verbringen. Mitunter kann man den Nachtschlaf (insbesondere den Tiefschlaf) auch durch eine vorherige Wärmeanwendung fördern, zum Beispiel durch ein 15minütiges heißes Bad. Um paradoxe Effekte zu vermeiden, sollte der Abstand zur Bettruhe allerdings 3 bis 4 Stunden betragen.

Risiko-Entwarnung: Erbfaktoren sind von untergeordneter Bedeutung

DS: Vor allem Kinder von Demenz-Patienten befürchten, später selbst einmal an diesem Leiden zu erkranken. Was läßt sich aus ärztlicher Sicht dazu sagen?

Prof. Bauer: Kindern von Alzheimer-Kranken kann man heute die klare und korrekte Auskunft geben, daß genetische Faktoren bei der Alzheimer-Demenz nur eine untergeordnete Rolle spielen. So finden sich bei über 90 Prozent aller Alzheimer-Patienten keine Hinweise auf eine familiäre Häufung, welche die Voraussetzung für einen autosomal dominanten Erbgang erfüllen würde.

In letzter Zeit wird die Variante ApoE4 des Apolipoprotein-Gens vermehrt unter dem Gesichtspunkt der Vererblichkeit beachtet. Sie verlangt jedoch keine grundsätzlich andere Risikobewertung. ApolipoproteinE4 ist zunächst und in erster Linie ein Risikofaktor für die koronare Herzerkrankung und für zerebrovaskuläre Leiden. Personen mit ApoE4 müssen zunächst einmal das Risiko überleben, im 5. und 6. Lebensjahrzehnt an einem vaskulären Ereignis zu sterben, um erst dann dem erhöhten Risiko ausgesetzt zu sein, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken. Daher beträgt bei einer heute 35jährigen Person mit reiner (homozygoter) ApoE4-Ausstattung das Lebenszeitrisiko für eine Alzheimer-Demenz weniger als 7 Prozent. Vor diesem Hintergrund eignet sich die Bestimmung des ApoE4-Phänotyps nicht zur vorausschauenden Demenz-Diagnostik. Ein diesbezüglicher Untersuchungswunsch von Angehörigen sollte daher abgelehnt werden, da die Ergebnisse möglicher nur unnötige neurotische Konflikte heraufbeschwören.

DS: Was würden Sie als den Hauptrisikofaktor für die Alzheimer-Demenz bezeichnen?

Prof. Bauer: Sofern man überhaupt von einem Haupt-"Risikofaktor" für das Auftreten einer Alzheimer-Erkrankung sprechen kann, heißt er "höheres Alter". Ein erhöhtes Risiko, an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken, haben daneben auch solche Menschen, die erstgradig mit einer Person verwandt sind, die an einer Alzheimer-Krankheit oder an einer anderen neurologischen Erkrankung leidet.

Erhöht Überbehütung das Demenzrisiko

DS: Sie sind der Frage nachgegangen, ob spezifische Streßfaktoren im Vorfeld einer Alzheimer-Erkrankung zu erkennen sind. Dabei diente eine Gruppe von Patienten mit vaskulärer Demenz als Vergleich. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Prof. Bauer: Bevor die ersten kognitiven Symptome einer Alzheimer-Demenz einsetzen, scheinen die meisten Patienten über Jahre hinweg zunehmend passiver zu werden. Die prämorbide Lebenssituation der Prädisponierten zeichnet sich durch Behütung, Fremdbestimmung und schließlich durch Motivationsverlust aus. Eine noch nicht publizierte Studie einer Arbeitsgruppe um Kropiunigg an der Wiener Universität sowie eine kürzlich von Kondo und Mitarbeitern in der Zeitschrift DEMENTIA publizierte japanische Untersuchung kommen übrigens zu praktisch identischen Ergebnissen wie wir.

Im Unterschied zu Alzheimer-Kranken zeichnen sich Patienten mit vaskulärer Demenz vor Erkrankungsbeginn durch Dominanz und durch eine Tendenz aus, Bezugspersonen zu kontrollieren. Im Vorfeld der Erkrankung kommt es dann zu einem Kontrollverlust, weil sich wichtige Bezugspersonen der bis dahin ausgeübten Kontrolle durch den Patienten entziehen.

DS: Welche Handlungsempfehlungen lassen sich aus Ihren Beobachtungen ableiten?

Prof. Bauer: Behütung und Fremdbestimmung scheinen zu verhindern, daß künftige Alzheimer-Patienten lernen, eigene Strategien zu entwickeln, um neu auftretende, kritische Situationen zu bewältigen. Möglicherweise korrespondiert diese "erlernte Hilflosigkeit" mit Veränderungen auf neuronaler Ebene. So ist denkbar, daß im Gehirn mangels Übung Programme für höhere neuropsychologische Leistungen verloren gehen. Aus dem Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, Alzheimer-Patienten in einem möglichst frühen Stadium der Erkrankung motivational und mental zu aktivieren und den Angehörigen die Gefahren einer Überbehütung zu verdeutlichen.

DS: Herr Prof. Bauer, vielen Dank für dieses Gespräch.

"Die Alzheimer-Krankheit" - positive Stellungnahme zu Sermion 30R in einem praxisnahen Kompendium

Das neue Buch von Prof. Dr. Joachim Bauer "Die Alzheimer-Krankheit" überzeugt durch eine erfrischend klare und überaus kritische Darstellung unseres heutigen Wissens über dieses Leiden und seine Therapie. Da der Freiburger Experte auch die medikamentösen Behandlungsansätze unvoreingenommen unter die Lupe nimmt, wird sein Werk viele ernüchtern. Zu den wenigen Substanzen, die der kritischen Prüfung des Autors standhalten, gehört Sermion 30R.

Zitat: "Nicergolin, ein Ergotalkaloid, hat neben einer alpha-1-blockierenden und dadurch vasodilatatorischen Wirkung zusätzliche indirekte dopaminerge Effekte (Übersichtsarbeit bei Herrschaft, 1992). Verschiedene ältere Studien an Patienten mit nicht näher klassifizierten dementiellen Syndromen berichten bei Tagesdosen von meist 30 mg von einer positiven Wirkung auf kognitive Parameter durch aktivierende Effekte auf den Glukose-Stoffwechsel und Verbesserung der Glukoseutilisation (Herrschaft, 1992). Die heute zu empfehlende Tagesdosis von 30-60 mg beruht auf dem überzeugenden Wirkungsnachweis von Nicergolin bei Patienten mit Demenz vom Multiinfarkttyp (MID), wenn sie mit 60 mg täglich behandelt werden (Hermann, 1994). Eine neuere, an der Wiener Universitätsklinik durchgeführte doppelblinde und placebokontrollierte Studie fand bei einer Tagesdosis von 60 mg signifikante positive Effekte von Nicergolin auf behaviourale, kognitive und neurophysiologische Parameter bei Patienten mit Alzheimer-Demenz (Saletu et al., 1994), so daß Nicergolin (Sermion 30R) zu den wenigen Präparaten gezählt werden kann, die den Verlauf der Alzheimer-Demenz günstig beeinflussen."

Joachim Bauer: Die Alzheimer-Krankheit. Schattauer 1994. 132 Seiten. DM 48.-


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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