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Anleitung zur

biografischen Selbstreflexion

statt Biografiearbeit

Buchautor Friedhelm Henke


Nutzen der Biographiearbeit

Perspektivenwechsel

Selbstreflexion statt fremdgesteuerte Reflexion

Anleitung zur biographischen Selbstreflexion in der Pflegepraxis

Anleitung zur biographischen Selbstreflexion am Beispiel des Erzählcafés


Warum spricht man statt Biographiearbeit von einer Anleitung zur biographischen Selbstreflexion? Was bringt der Perspektivenwechsel für den alten Menschen? Wie funktioniert ein Erzählcafé? Die Anleitung zur biographischen Selbstreflexion erfordert soziologische und psychologische Sachkenntnisse. Hier werden diese zusammen mit Praxistipps für die gelungene Anleitung zur biographischen Selbstreflexion aufgeführt.

Nutzen der Biographiearbeit

Die Biographie ist ein lebenslanger Prozess, der bewusst oder auch unbewusst abläuft. Biographiearbeit ist das Aufzeichnen, Aufschichten von Lebenserfahrungen. Diese sind ineinander verwoben. Sie spiegelt die historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und familialen Bedingungen wieder. Es handelt sich um die Deutung und Umdeutung der Vergangenheit (nicht der Realität). Aus eigener Erfahrung weiß jeder, dass man negative Erlebnisse nach einiger Zeit aus der Distanz relativiert und positiver betrachtet. Die guten Erfahrungen dagegen werden oft aus der Distanz verstärkt. Dies kann schließlich zu einer Verhaltensänderung und nach einen unruhigen Leben auch zum inneren Frieden beitragen.

Mit der Biographiearbeit beschäftigen sich sehr viele Wissenschaften (Ethnologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft). Ein Anliegen der sozialwissenschaftlichen Forschung ist die Rekonstruktion und Auswertung von Autobiographien, um Erkenntnisse über die Gesellschaft zu gewinnen. Die Sozialwissenschaft fragt danach, wie sich der Einzelne die Welt aneignet. Zum Beispiel fragt man: „Wie wird mit der unterschiedlichen Rollenerwartung (z. B.: als Vater, Bruder, Sohn, Teamchef, Teamkollege, Nachbar, Sportfreund u.s.w.) der Menschen umgegangen?“. Weiterhin stehen Erkenntnisse darüber im Vordergrund, wie Gesellschaft hergestellt wird und wie deren Werte und Normen entstehen. Dagegen interessiert sich die Psychoanalyse für die Erhellung des Lebenslaufs des einzelnen Menschen, um verzerrte Interpretationsmuster offenlegen zu können. Bibiliographiearbeit heißt jedoch nicht das Privatleben auszuleuchten, sondern gesellschaftliche Strukturen des Einzelnen offenzulegen, damit man diese für die individuelle Identitätsentwicklung fruchtbar machen kann. Grundsätzlich gilt es, die Würde des Menschen zu wahren!“ Daher spricht man von der Anleitung zur biographischen Selbstreflexion und meint damit eben nicht das penetrante Nachfragen. Gleichwohl muss der Anleiter durchaus auch mal jemanden bremsen, damit dieser nicht zuviel grübelt.

Perspektivenwechsel

Psychoanalytische Konzepte, die bei der Anleitung zur biographischen Selbstreflektion zur Anwendung kommen, sind das Topische Modell und die Abwehrmechanismen wie zum Beispiel das „Nichtwahrhabenwollen“ (nach Sigmund Freud und seiner Tochter Anna). Das Topische Modell kennzeichnet die Ebenen, wo lebensgeschichtliche Erfahrungen als Erinnerungen oder Erinnerungsspuren abgelagert werden. Freud unterscheidet dabei die Denkweisen und Wahrnehmungsstrukturen des Bewusstseins von unbewussten, nicht direkten verdrängten Erfahrungen und von direkt zugänglichen Erinnerungen des Vorbewussten (des Gedächtnisses). Ein Zugangsweg zum Vorbewussten ist das Erinnern, indem man über seine eigene Geschichte nachdenkt und entscheidende Gefühle somit wieder aktualisiert. Um einen Zugang zum Unbewussten zu bekommen, nutzt man die Arbeit mit Medien, da diese nicht so stark der rationalen Kontrolle unterliegen. So kann das Freilegen von zum Teil verdrängten Gefühlen und Erfahrungen zum Beispiel mit dem Malen von Bildern, mit Visualisieren, mit Hilfe von Fotos oder Filmen gelingen und so im wahrsten Sinne des Wortes zu einer veränderten Sichtweise (zu einem Perspektivenwechsel) beitragen.

Die Betrachtung und Deutung körperlicher Strukturen, wie die Darstellung und Spiegelung der charakteristischen Körperhaltung und Bewegungsmuster sowie das Erspüren von Verspannungen und Verhärtungen, können das Körpergedächtnis offenlegen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei immer auf kindliche Erfahrungen. Erfahrungen sind Vorgänge, welche die Ganzheitlichkeit (Körper, Seele, Geist und soziales Umfeld) des Menschen berücksichtigen. Sie werden niemals objektiv (rein sachlich) abgespeichert, es handelt sich stets um einen subjektiven (persönlich wertenden) Vorgang! So ist man in seinen Erfahrungen und Handlungen immer mit seiner ganzen Lebensgeschichte involviert. Alle gemachten und noch folgenden Erfahrungen sind / bzw. werden miteinander verwoben. Die Erfahrungen können auf verschiedenen Ebenen als Erinnerungen abgespeichert werden. Es existiert dabei eine Verknüpfung mit den Vorerfahrungen, die nun aktualisiert werden und natürlich viel leichter verfügbar sind.

Selbstreflexion statt fremdgesteuerte Reflexion

Ziel der Psychoanalyse ist die Auflösung und Abarbeitung verdrängter, ungelöster unbewusster Konflikte, die vor allem aus der Kindheit stammen. Das heißt, es liegt eine feste Diagnose vor. Die Biographiearbeit selbst gibt es jedoch nicht als reine Therapieform. Es gibt lediglich einige Therapieformen, die sie unterstützend befürworten. Daher muss Biographiearbeit als Selbstreflexion nicht unbedingt professionell erfolgen! Sie kann natürlich auch unbewusst geschehen. Schließlich denkt jeder Mal über sich nach.

Die biographische Selbstreflexion ist das Überschreiten von Grenzen durch eine Bewusstwerdung. Der Analysant spürt selbst aktive Anteile auf, wo er innerhalb gesellschaftlicher Strukturen selbst aktiv sein Leben gestaltet. Dazu ist grundsätzlich zu bemerken, dass man bei den Interpretationen immer vorsichtig sein muss. Ein regelrechtes Ausfragen oder pauschalierendes Abstempeln ist auszuschließen. Ziel der Anleitung zur biographischen Selbstreflexion ist das Offenlegen der gesellschaftlichen Strukturen des Einzelnen, um diese für die individuelle Identitätsentwicklung fruchtbar zu machen. Das Unbewusste, Einengende und Begrenzte soll bewusst werden, um dieses angestrebte selbstbestimmten Handeln weiter voranzubringen.

Anleitung zur biographischen Selbstreflexion in der Pflegepraxis

Relevanzbereiche der biographischen Selbstreflexion für die Pflegepraxis sind neben der Beziehungspflege, auch die Aktivierende Pflege, die intensive Durchführung von Gesprächen im Rahmen der Pflegeanamnese sowie die pflegekonzeptbezogene Berücksichtigung entsprechend einem speziellen Pflegeleitbild.

Zu beachten ist vor allem, dass es sich um subjektive Deutungen handeln muss. Die Aufgabe der AnleiterInnen zur biographischen Selbstreflexion ist es nicht, Neues zu konstruieren, oder etwa die Wahrheit herauszufinden, sondern vielmehr zu sensibilisieren, dass etwas verzerrt aufgenommen wurde. Schwerpunktmäßig konzentriert man sich dabei entweder auf das ganze Leben oder eher auf Einzelheiten (zum Beispiel auf den ersten Schultag). Dabei ist allerdings eine Trennung des Gesamtzusammenhangs notwendig. Bei der Biographiearbeit geht es primär um die Verbesserung der Lebensqualität am Ende eines langen Lebens und nicht um eine selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Versäumnissen. Wer sich auf biographisches Arbeiten einlässt, übernimmt auch die Verantwortung, sich mit historischen Fakten (wie zum Beispiel mit dem Nationalsozialismus) auseinander zusetzen. So sollte man sich im Vorfeld gut informieren, da man sehr schnell reagieren muss und in der Regel wenig Zeit zum Nachfragen hat, was sich auf die Selbstreflexion wiederum störend wirkt. Die Biographiearbeit ist ein Balanceakt. Die Pflegekraft kann mit einem verkehrten Wort viel anrichten. Andererseits soll sie aber dem Gegenüber Hilfen anbieten, dass sie / er die Erfahrung mal unter einer anderen Perspektive sieht.

Anleitung zur biographischen Selbstreflexion am Beispiel des Erzählcafés

Eine Art der biographischen Selbstreflexion ist ein integrativer Austausch von Erfahrungen in einem „Erzählcafé“. Dabei legen die Teilnehmer (etwa drei bis vier Personen) ein Thema fest. Die Gruppe sollte ein Schonraum sein. Informationen sollten nicht an die Öffentlichkeit gelangen, sondern diskret nur innerhalb der Gruppe behandelt werden. Wichtig ist auch, dass es dabei nicht um eine Diskussion oder gar um eine Bewertung der Aussagen des Anderen geht, sondern lediglich um das Erzählen. Daher sind, wenn überhaupt, nur neutrale Nachfragen erlaubt! Ein Moderator, der bei Bewertungen und Diskussionen einschreitet ist dabei sicherlich empfehlenswert. In Kleingruppen können aber auch alle Gruppenmitglieder diese Wächterfunktion übernehmen. Das Erzählcafé beabsichtigt, dass sich die Teilnehmer selbst erleben und kennenlernen. Das Thema sollte möglichst konkret festgelegt werden, so dass jeder möglichst das Gleiche oder zumindest das Ähnliche damit assoziieren kann. Die Dauer des wechselseitigen Erzählens sollte insgesamt ca. 1,5 Stunden nicht überschreiten. Diese Methode ist sicher besonders ideal für die Altenarbeit. Dabei wird man feststellen, wie viel jüngere Menschen von älteren lernen können und wie schwer es ist, das ständige Einordnen und Werten von Informationen (das vermeintliche Schubladendenken) auszuschalten. Gute Erzähler und Zuhörer sind gefordert, die ohne zerstörende Bewertungen des gerade erzählten bzw. gerade gehörten Beitrags verbalisierte Erfahrungen neutral wahrnehmen können. Gerade dies ermöglicht eine gelungene biographische Selbstreflexion des Erzählers.