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Die Angehörigenproblematik bei Demenzerkrankungen

von Jochen Gust

Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland ca. 1,1 Millionen Demenzkranke leben. Das Stichwort "Alzheimer" kennen mittlerweile auch Menschen, die nicht in Pflegeberufen arbeiten. Für die Erkrankten ist noch längst nicht genug getan und für Deutschland darf gesagt werden, dass wir ein Entwicklungsland der Dementenpflege sind. Es besteht großer Handlungsbedarf innerhalb der Gesellschaft, um die Situation Demenzkranker in Pflegeheimen zu verbessern. So weit, so den meisten geläufig.
Weniger bekannt ist, dass die meisten Erkrankten von Angehörigen Zuhause gepflegt werden, und nur der kleinere Teil in Heimen lebt. Die Pflege Demenzkranker stellt an Altenpfleger extreme Herausforderungen, zumal das Wissen um den richtigen Umgang mit Alzheimerkranken in der Altenpflegeausbildung kaum oder gar nicht vermittelt wird. Ein Altenpfleger, der in der Dementenpflege tätig ist, hat einem Angehörigen gegenüber jedoch zwei entscheidende Vorteile. Irgendwann, nach allem Stress und der psychischen und physischen Belastung winkt der Feierabend. Und in schwierigen Situationen kann ein Teamkollege schon mal helfen. Einem Angehörigen steht all das nicht zur Verfügung.
Einen Dementen zuhause zu pflegen, bedeutet allein gegen die unterschiedlichen Ausdrucksformen einer tödlichen Erkrankung zu kämpfen, wie z.B. gelegentlich aggressives Verhalten, schwere Wahrnehmungsstörungen der Erkrankten, Hinlauftendenzen, der allmähliche Verlust der Sprachfertigkeiten und der Störung des Tag- /Nachtrhythmus, ständiges Rufen (Echolalien) oder Klopfen, Attachement-Verhalten. Und viele weitere, denn die Erkrankung findet stets sehr individuelle Ausdrucksformen - was Patentrezepte kaum greifen lässt, und eine einzelfallbezogene Beratung notwendig macht.
Die aber können Angehörige in der Regel kaum erhalten. Und wenn das Angebot da ist, haben pflegende Angehörige häufig das Problem, dass sie keine Vertretung finden für sich, die auf den Erkrankten aufpassen könnte, während sie weg sind.

Wer sind "die pflegenden Angehörigen"?

Lediglich sechs Prozent aller Pflegebedürftigen werden stationär gepflegt. Die pflegenden Angehörigen stellen den größten Pflegedienst Deutschlands. Fachleute (Adler und Brähler 1998) beziffern die Größenordnung, in welcher Demenzkranke zuhause gepflegt werden, mit 80 - 90%. Zwei Studien unter pflegenden Angehörigen zufolge sind 80 % der pflegenden Angehörigen Demenzkranker weiblich, Ehefrauen oder Töchter und im Durchschnitt 58,1 Jahre alt. Etwa 83 % der Demenzkranken leben laut dem Zentralinstitut für seelische Gesundheit (Mannheim) mit ihrer Pflegeperson in einem Haushalt, weitere 12 % in unmittelbarer Nachbarschaft. An dieser Stelle darf auch nicht vergessen werden, dass es eine weitere Gruppe der Angehörigen gibt: Diejenigen Angehörigen Demenzkranker, die den Erkrankten in einem Heim untergebracht haben. Wer glaubt, insbesondere der psychische Stress sei für eine Angehörige mit der Aufnahme des bisher zuhause gepflegten Kranken quasi erledigt, der irrt sich gewaltig. B. Kramer kam in seiner Studie (Husbands caring for wives with dementia; Health & Social Work 2000) zu dem Ergebnis, dass die Gatten demenzkranker Frauen, die im Pflegeheim versorgt werden, in jedem zweiten Fall unter einer klinisch erfassbaren Depression litten. Und das obwohl die körperliche Belastung und auch die soziale Isolation, in der pflegende Angehörige Demenzkranker oft leben müssen, weggefallen war. Der seelische Zustand der Ehemänner verschlechterte sich dennoch.

Aus dem Belastungserleben pflegender Angehöriger Demenzkranker

Laut Infratest Sozialforschung (1996) geben rund 90 % der Angehörigen an, durch die Pflege des Verwirrten "stark" oder "sehr stark" belastet zu sein. Dies erklärt sich durch die mannigfaltigen herausfordernden Verhaltensweisen Demenzkranker. So stellt eine weitere Untersuchung aus dem Jahr 1997 (Gräßel) dar, dass 74,2 % der Angehörigen die Pflege und Betreuung "rund um die Uhr" leisten. Das heißt: Auch in der Nacht. Mehr als 57 % der Angehörigen müssen ihren Nachtschlaf über Jahre hinweg regelmäßig für die Pflege des Erkrankten unterbrechen oder werden von diesem beim Schlafen unterbrochen. Hinzu kommt noch der hochemotionale Stress, der durch die ständige Sorge um den Erkrankten entsteht und dadurch, dass trotz der (liebevollen) Pflege keine Verbesserung des Krankheitszustands der nahe stehenden Person erreicht wird. Neben ganz praktischen Problemen bei der täglichen Pflege, z.B. bei Inkontinenz, gesellen sich noch mangelnde finanzielle Ausstattung und vor allen Dingen soziale Isolation zum Belastungsbild pflegender Angehöriger Demenzkranker hinzu.
Wenn Seele, Geist und Körper derart stark belastet werden - und dies nicht selten über einen langen Zeitraum hinweg, ist es schon nahezu logische Konsequenz, dass körperliche Folgen für die pflegenden Angehörigen nicht ausbleiben können. Laut Buijssen (Autor mehrerer fachbezogener Bücher; 1997) leiden etwa ein Drittel bis die Hälfte aller pflegenden Angehörigen selbst unter gesundheitlichen Problemen.
Gräßel zeigte 1998 in einer weiteren Studie auf, dass pflegende Angehörige Demenzkranker deutlich mehr Beruhigungsmittel konsumieren als Pflegende geistig Gesunder. Ebenfalls leiden sie signifikant häufiger unter depressiven Verstimmungen und Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Diese Folgeerscheinungen sind ganz eindeutig im Kontext der extremen Belastung durch die Pflege Demenzkranker zu sehen. Auch der häufige Zwang zur Berufsaufgabe, um die Pflege zuhause leisten zu können, bis hin zu schweren innerfamiliären Problemen, Trennungen und Scheidungen verschärfen die Situation der Pflegenden zusätzlich.

Unterstützungsangebote für Angehörige

Insbesondere an so genannten "niederschwelligen Hilfeangeboten" mangelt es in Deutschland. Zwar gibt es vielerorts regionale Alzheimergesellschaften, doch macht der ständige Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand für die Erkrankten einen regelmäßigen Besuch von Selbsthilfegruppen häufig unmöglich. Wichtig für Angehörige sind die Alzheimergesellschaften vor allem jedoch durch die Informationsvermittlung über die Erkrankung und Tipps zum Verhalten und Umgang mit den Betroffenen. Ebenfalls das Gefühl, nicht mit allen Problemen allein zu sein, kann für pflegende Angehörige ein wesentlicher Faktor werden, wenn es darum geht, die Pflege Demenzkranker zuhause durchzuhalten und sich selbst dabei nicht zugrunde zu richten.
Letztlich steht und fällt die Qualität und Quantität von Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige mit den dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln. Dass die Pflege Demenzkranker eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, ist jedoch leider in der Politik wie bei den Funktionärsträgern des Gesundheitswesens noch zu wenig bewusst, wenn auch mit dem Pflegeleistungsergänzungsgesetz ein erster Schritt in die richtige Richtung getan ist. Hier wird dem hohen Betreuungsaufwand und der dringend notwendigen Entlastung pflegender Angehöriger wenigstens ansatzweise Rechnung getragen.
Ein weiteres, niederschwelliges Angebot im Zeitalter des Internets ist das Alzheimerforum der Alzheimer-Angehörigen-Initiative e.V.. Unter www.alzheimerforum.de erreichen Angehörige und Interessierte die meistbesuchte Seite zum Thema Alzheimer in Deutschland. Hier finden Angehörige eine spezielle, geschlossene Mailingliste, in der sie sich sowohl von anderen Angehörigen als auch von ehrenamtlichen Beratern Informationen und Rat quasi rund um die Uhr holen können. Nach einem dreimonatigen "Hereinschnuppern" ist jedoch auch hier eine Mitgliedschaft erforderlich, deren Beitrag aber sehr, sehr gering ist. Auch für beruflich Pflegende, die am Thema interessiert sind, verfügt das Alzheimerforum über eine eigene Mailingliste, die für den fachlichen Austausch gedacht ist.


Literatur:

  • Berske, F.; Kern, A. (Hrsg.): Leichte kognitive Störungen - Definition, Früherkennung und Frühbehandlung. Kiel: 2000

  • Böttcher, May-Britt: Pflegende Angehörige demenzkranker alter Menschen - Darstellung des Bedarfs und Unterstützungsmöglichkeiten. Diplomarbeit, Juli 2000

  • Buijssen, Huub: Die Beratung von pflegenden Angehörigen. Beltz-Verlag 1997

  • Gräßel, Elmar: Belastungen und gesundheitliche Situation der Pflegenden. Querschnittuntersuchungen zur häuslichen Pflege bei chronischem Hilfs- oder Pflegebedarf im Alter. Verlag der Deutschen Hochschulschriften 1998

  • Wotzke, Ella: Alzheimer. Hausarbeit am Rhein-Sieg-Gymnasium, Juli 2002

 

Jochen Gust
Elisabethstr. 48 / 23701 Eutin
Jochen.Gust@AlzheimerForum.de
Erstveröffentlichung in "Der Pflegebrief" Ausgabe 01/2003 S. 5 ff


 

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