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Unsere Oma und die Alzheimer-Krankheit


Hallo, ich bin die Schwiegertochter einer an Demenz vom Alzheimer Typ erkrankten 82jährigen Frau. Meine Familie und ich leben in der Nähe von München.

Seit mindestens acht Jahren ist meine Schwiegermutter erkrankt. Erkannt haben wir es erst, als mein Schwiegervater (er hatte immer Angst: "die brennt nochmal das Haus ab!") starb. Es war im August 1990, als wir sie zu uns ins Haus nahmen, weil das benachbarte, alte Haus meiner Schwiegereltern abbruchreif war. Zuerst glaubte ich an eine verständliche Depression, die sie jede Abmachung vergessen ließ. Unsere Kinder waren damals 9, 7 und 4 Jahre alt und ich hatte meine Schwiegermutter als viertes Kind dazu bekommen. Um ein wenig Luft zu bekommen, schickte ich sie auf Kur. Doch die tat ihr nicht gut - sie war sehr verwirrt.

Weihnachten schenkte ihr mein Mann einen Dackel - der ging dann immer mit ihr spazieren und führte sie auch wieder heim. Sie magerte sehr ab, weshalb ich sie zu uns zum Essen einlud - obwohl sie in unserem Haus eine eigene Wohnung hatte. Beim Essen konzentrierte sich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sie, für die Kinder war wenig Raum. Nach etwa zwei nervenaufreibenden Jahren las ich von der Gedächtnissprechstunde in der Nußbaumstraße. Dort wurde sie zwei Wochen lang stationär aufgenommen. Diagnose: Demenz vom Alzheimer Typ.

Ich bekam schreckliche Angst vor der Zukunft und stopfte mich mit Informationen voll. Auch besuchte ich regelmäßig die Angehörigengruppe. Als dort meine Tränen immer häufiger flossen, riet man mir, mich nach einem Heim umzuschauen. Doch mein Mann war dagegen, seine Mutter "abzuschieben". Er war den ganzen Tag in der Arbeit und bekam die vielen Kleinigkeiten nicht mit. Darüber, daß ich ihre spurlos verschwundene Lieblingsjacke verkauft haben soll, konnte er nur lachen. Abends wurde er schon vor der Tür erwartet und von seiner Mutter mit den neuesten Schauergeschichte über mein Fehlverhalten begrüßt. Die Ehe bestand unter diesen Umständen nur noch auf dem Papier und wegen der Kinder. Er wußte nicht, auf welche Seite er sich schlagen sollte; ich war völlig überfordert und kämpfte wie ein Wolf ums Überleben.

Zuerst entzog ich ihr heimlich den Briefkastenschlüssel, weil zu oft teilweise wichtige Post verschwunden war. Die fand ich dann geöffnet vor einer tränenüberströmten Frau liegen, die den Inhalt völlig falsch deutete. Ich kümmerte mich um Essen auf Rädern, damit wenigstens beim Mittagessen Zeit für die Anliegen meiner Kinder war. Doch das gelieferte Essen verfütterte sie an den Hund. Dann bemühte ich mich um eine Frau, die wenige Stunden in der Woche mit ihr alte Fotos anschaute und sich mit ihr unterhielt. Der gemeinsame Einkaufsausflug in die Stadt blieb aber eine einmalige Angelegenheit... Als es immer schlimmer wurde und ich allmählich begriff, daß Belehrungen nichts helfen, kümmerte ich mich um einen Heimplatz. Gleichzeitig beantragte ich beim Vormundschaftsgericht die Betreuung durch meinen Mann. An dem Tag, an dem der Arzt erschien, fiel sie ganz dumm hin und prellte sich eine Rippe. Das stand bei der Untersuchung so im Vordergrund, daß die Zustimmung zur Betreuung noch lange auf sich warten ließ.

Am 23. Dezember 1993 erfuhren wir morgens von einem freien Heimplatz in Neubiberg. Mein Mann war am Telefon und so geschockt, daß er den von mir heiß ersehnten Platz ablehnte. Im Januar besichtigten wir ein anderes Heim. Meine Schwiegermutter war dabei, schloß aber demonstrativ die Augen und sagte: "Das sehe ich noch früh genug". Beim zweiten Mal holte ich mir Verstärkung durch ihre Schwester, die sie schon tageweise betreut hatte. Gemeinsam schafften wir es, meinen Mann von der Notwendigkeit des Umzugs zu überzeugen.

Heute sagt er selbst: "Das war die einzig richtige Entscheidung. So konnte es nicht mehr weitergehen". Anfangs holte er sie am Wochenende oft heim, übergab sie mir und legte sich selbst schlafen. Er konnte mit der Situation überhaupt nicht umgehen und es dauerte sehr lange, bis sich unser Verhältnis wieder normalisierte. Wenn wir sie im letzten oder vorletzten Jahr zu uns holten, wurde sie schon nach einer halben Stunde unruhig und wollte wieder "heim". Wir interpretierten das als zurück ins Heim, wo sie zwischenzeitlich eine Freundin gefunden hatte. Die schob ihr immer den Nachtisch zu, was den Schwestern auf Dauer nicht gefiel, weil meine Schwiegermutter kräftig an Gewicht zulegte. Die beiden wurden während des Essens getrennt und auch sonst konnten die beiden "Lausdirndl aus der letzten Bank" (wie sie sich selbst betitelten) immer weniger miteinander anfangen.

Hatte man im Heim anfangs noch geglaubt, sie auf einer Zwischenstation unterbringen zu können, sagte man mir nach zwei bis drei Tagen: "die vergißt ja alles". Ein Satz, der mir irgendwie gut tat. Nun, nachdem sie seit über vier Jahren dort lebt und unser Leben wieder "normal" läuft, holen uns die Sorgen wieder ein. Zuerst hat sich der Bezirk, der uns beim Zahlen der Heimkosten unterstützte, weitgehend zurückgezogen. Die monatliche Belastung liegt für uns nun bei 1150,- Mark (und das mit drei halbwüchsigen Schulkindern!). Dann erfuhren wir, daß meine Schwiegermutter nach Haar muß, um "medikamentös eingestellt zu werden". Sie hatte einen Blumentopf vom Balkon geworfen, schläft in der Nacht kaum noch und "hilft" der Nachtwache auch in anderen Zimmern beim Aufräumen. Der Schlüssel ihres Kleiderschrankes hängt schon lange im Schwesternzimmer, weil das Umziehen ihre liebste Beschäftigung war und den Schwestern extrem viel Arbeit bereitete.

Vor etwa drei Jahren hatte sie einen wahren "Scherentick": als ehemalige Schneiderin wollte sie immer nähen, zerschnitt aber jeden Stoff den sie erwischte. Noch kurz vor ihrer Einweisung in die Gerontopsychiatrie besah sie sich stundenlang staunend den Saum ihrer Kleider und Röcke und erzählte bei jedem Besuch, daß sie das Teil gerade erst fertig genäht hatte. Wir ließen sie bei ihrem Glauben und lobten eifrig, was ihr unendlich gut tat. Manchmal beklagte sie sich, daß sie für die viele Arbeit die sie täglich verrichten mußte, so wenig Geld bekommt. - Das Geld war ihr das ganze Leben lang wichtig gewesen, deshalb wünschte sie sich von uns vor langer Zeit eine Stahlkassette. Nur war deren Schlüssel ständig verschwunden, so daß wir sie ihr bald wieder wegnahmen.

Doch zurück nach Haar. Man hatte uns erzählt, daß sie nur zwei Wochen dort bleiben müßte - sonst hätte mein Mann gar nicht zugestimmt. Nach vier Wochen - in denen sie ständig abbaute, von einer Tür zur anderen lief und uns von "Angst" erzählte - rief uns die Vormundschaftsrichterin an und beantragte eine Erlaubnis auf Verlängerung der Unterbringung. Ich versuchte mit der aufnehmenden Ärztin zu telefonieren, doch die war in Urlaub. Ihr Vertreter wußte in einem persönlichen Gespräch absolut nicht, was er mit meiner Schwiegermutter anfangen sollte. Er dachte, er müsse wegen der bevorstehenden Betreuung ein Gutachten schreiben. Nachdem ihm mein Mann klar machte, daß er bereits Betreuer ist und seine Mutter nicht länger dort lassen möchte, war er wie ausgewechselt. Er telefonierte mit seinem Chef, der erklärte meinem Mann, daß die Pflegestation, in der seine Mutter bisher war, nicht "geschlossen" und meine Schwiegermutter hochgradig weglaufgefährdet sei. Kein Wunder, in einem Saal mit 25 Betten und wenig Auslauf. Die extreme Unruhe der ansonsten eher zurückhaltenden Frau, die immer allen gefallen möchte, war sogar noch schlimmer geworden; die Orientierung fehlte völlig. Wenn sie uns sah, ging aber noch ein Strahlen über ihr Gesicht. Kurz und gut, unsere Vermutung, daß das Heim unsere LO abschieben will, drängte sich uns immer stärker auf. Trotzdem beharrten wir - auf eigene Gefahr! - auf eine Zurückverlegung. Schon zwei Tage später gefiel sie uns ein wenig besser, kam sie uns ein wenig aufgeräumter vor.

Nun folgte ein Anruf vom Heim: Es würden sich Angehörige von anderen Patienten beschweren, daß sie untragbar sei, weil sie sich schon morgens auszieht (das wird nun - noch nicht ganz erfolgreich - mit Overalls zu unterbinden versucht). Außerdem hätte sie NICHTS mehr zum Anziehen, da sie alle Knöpfe abgedreht hat (sie kann das ganz gut mit dem daranhängenden Stoff, so daß ans Richten nicht mehr zu denken ist). Auch die Unterwäsche sei verschwunden, usw. Vom Schlafen wurde schon gar nicht mehr gesprochen, aber soweit wir aus Haar wissen, hat man dort auch keine Möglichkeit zum Ruhigstellen gefunden. Die Ärztin, die sie im Heim betreut, hat mir erzählt, sie bekäme täglich drei starke Tranquilizer, die sie aber auch nicht vom ständigen Umherlaufen abhalten. Selbst wenn wir da sind, hält sie es nicht lange auf einem Stuhl aus. Manchmal, wenn sie einen guten Tag hat, können wir aus ihren Worten noch erkennen, was sie uns zu sagen versucht. Doch beim heutigen Besuch war es ganz unmöglich: normalerweise spricht sie von ihrem Sohn, obwohl er neben ihr sitzt. Nicht einmal soweit reichte es heute.

Nun bin ich am überlegen, ob wir sie auf Dauer in dem Heim lassen können. Die hiesige Ärztin meinte, es gäbe keine medizinischen Probleme mit ihr, wohl aber pflegerische. Nachdem immer mehr verwirrte Menschen auf die Station kämen, seien die Schwestern überfordert. Es gäbe Heime mit einem besseren Pflegeschlüssel. Eigentlich wollen wir sie nicht mehr umziehen lassen. Auf der jetzigen Station ist sie bekannt und findet sich noch ein ganz klein wenig zurecht. In einer neuen Umgebung wird sie das kaum mehr schaffen.

G.S. im Mai 1998

 

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