Mein Name ist K.-H. Bischoff. Ich bin jetzt (19.10.2000) 75 Jahre alt. Meine Frau Rita ist 77 Jahre alt. Wir wohnen in Wandsbek in einer 2 Zimmer-Wohnung. Im Sommer sind wir in Godau auf einem Campingplatz am Großen Plöner See. Ab April sind wir jedes Wochenende draußen und wenn das Wetter gut ist, bleiben wir solange, wie die saubere Wäsche reicht. Am 30. September ist dann Ende der Saison. Zunächst eine Frage: Kennen Sie Auguste Deter? Sie starb am 8. 4. 1906 in der städtischen Irrenanstalt in Frankfurt. Sie ist in der Medizingeschichte unsterblich geworden. Ihr Arzt Dr. Alois Alzheimer hat ihr Gehirn entnommen und untersucht. Er fand am Hirnrand viele kleine Eiweißablagerungen in Reiskorngröße und sogenannte Fibrillenbündel. Er hatte damit die Krankheit entdeckt, die seinen Namen trägt. In der BRD gibt es zu Beginn des Jahres 2000 etwa 1,2 Millionen Menschen, die davon betroffen sind. In den USA bereits mehr als 4 Millionen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Die Diagnose ist sehr schwierig. Es gilt aus etwa 50 verschiedenen Hirnleistungsstörungen, wie PIK, Altersschwachsinn, Schizophrenie usw. ausgerechnet die Alzheimer Krankheit herauszufinden. Außerdem gehen die Patienten sehr spät, meistens zu spät zum Arzt. Damit geht kostbare Zeit verloren. Die Medikamente die auf dem Markt sind, können die Krankheit nicht heilen. Sie können aber im Anfangsstadium den Verlauf verlangsamen. Unsere Geschichte beginnt 1988
In den folgenden Jahren 1988 bis 19993 passierten dann merkwürdige Dinge. Plötzlich litt meine Frau an übersteigerter Eifersucht. Damals fing man an bei Begrüßungen flüchtige Küsse auszutauschen "Bussi rechts Bussi links". Ich habe es sehr genossen, aber Rita ging einfach weg, manchmal ohne unsere Freunde zu begrüßen. Sie war dann sehr wütend. Ganz krass wurde es an einem Sonntagmorgen. Ich kam vom Wasserholen und stand mit einem Freund am Wohnwagen und wir klönten einige Minuten. Als ich dann zu unserem Wagen ging, überfiel mich Rita mit den Worten »Was hast Du denn den ganzen Morgen mit dem Kerl zu quatschen». Wir beide kennen den Mann schon seit 40 Jahren! Ein anderes Beispiel: Ich habe eine Besorgung gemacht. Vor unserer Haustür fragt mich eine fremde Frau mit Kinderwagen nach dem Weg zur U-Bahn. Ich zeige ihr den Weg und fahre nach oben. Rita hatte mich vom Fenster aus zufällig beobachtet und rastete total aus. Sie glaubte sogar, dass das Kind im Wagen von mir sei! Dann fing sie plötzlich an, alle möglichen Sachen zu verstecken. Geld, Bestecke, Bilder usw. Die Sachen waren einfach weg. Irgendwann tauchten sie wieder auf. Wir haben einmal ihre eiserne Reserve DM 1.000 drei Wochen lang gesucht. Zu Hause und im Wohnwagen. Ich bin bald durchgedreht. Schließlich fand ich das Geld in einem Geschenkkarton Wäsche. Sie hatte die Börse im Höschen eingewickelt und den Karton wieder verschlossen. Auch ihren Ehering hat sie andauernd verloren. Die Brille habe ich täglich etliche Male gesucht. Sogar ihre Zahnprothesen habe ich an den unmöglichsten Stellen gefunden. Einmal vermisste ich unser Kaffeegeschirr. Ich fand es schließlich in der Waschmaschine inmitten der Wäsche. Dann kam Rita vom Einkauf zurück ohne ihre Geldbörse. Sie weinte sehr. Sie meinte, sie sei ihr gestohlen worden. Kann sein? Sie kann sie aber auch verloren oder liegengelassen haben. Von da an ging sie nicht mehr einkaufen. Ich fing also an, den Haushalt "peu a peu" zu übernehmen. 40 Jahre habe ich in einem Superhaushalt gelebt. Das änderte sich nun. Den Haushalt und Rita zu managen, war zu viel. Zumal ich immer wieder zu arbeiten anfing. Im Oktober 1993 hatten wir dann ein Schlüsselerlebnis!
Einen Arztbesuch hat sie immer strikt abgelehnt. "Ich bin ja gesund!" Wir hatten nicht einmal einen Hausarzt. Die Jahre 1993 bis 1995 waren sehr schlimm. Außer Volksmusik konnte sie auch nicht mehr fernsehen. Sie stand vom Sessel auf und wollte die Stars oder Moderatoren immer begrüßen. Sie konnte es nicht mehr begreifen, dass die Personen nur auf der Mattscheibe waren. Sie glaubte, sie seien im Zimmer. Selbst Krimis, einst heißgeliebt, konnte sie nicht mehr ertragen. Wenn die Darsteller sich prügelten oder geschossen wurde, schrie sie vor Angst. Auch lief sie dauernd in der Wohnung umher. Und schließlich lief sie aus dem Haus, Peng! Sagte die Tür und Rita war weg. Glücklicherweise konnte sie damals schon den Fahrstuhl nicht mehr bedienen. Ich hatte dann Gelegenheit, mich anzuziehen und sie wieder einzufangen. Eines Tages, ich kam mittags nach Hause, da roch die ganze Wohnung nach verbranntem Metall. In der Küche hatte sie alle 4 Platten und den Backofen auf "volle Pulle" gestellt. Alle Platten waren bedeckt und der Deckel des Herdes war schon braun verbrannt. Sie stand im Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Auf meine Frage: "Was ist los in der Küche" antwortete sie "Ich koche." Das war das Ende ihrer Kochkünste. Sie hat den Herd nicht wieder angefasst. Ähnlich war es mit der Wäsche! Die Maschine braucht für 60 Grad-Wäsche ca. 90 Minuten. Weil Rita das zulange dauerte, surfte sie durch alle Programme. Die Maschine wusste nicht, soll ich Wasser nehmen, spülen oder heizen, schleudern oder was? Die Wäsche war nicht mehr April frisch sondern November grau. Ich habe dann auch die Wäscherei übernommen. Das Bügeln sowieso wegen der damit verbundenen Verbrennungsgefahr. Als ich ihr die Wäsche abnahm, war sie sehr böse. "Schließlich habe ich 40 Jahre gewaschen und Du hast nie gemeckert!" Ich habe dann bei der HEW einen Kochkursus gemacht. Seitdem weiß ich, dass jeder der lesen kann, auch kochen kann. Nur wenn ich die fertigen Menüs auf Hochglanz in den Kochbüchern sehe, dann sieht mein Ergebnis auf dem Teller aus, wie ein Verkehrsunfall auf der A7. Eines Tages sollte Rita ein Formular der MEZ mit unterschreiben. Dabei stellte ich fest, dass sie ihren Namen gar nicht mehr schreiben konnte. Es gelang auch nicht, wenn ich ihr die Buchstaben vorgeschrieben habe. 1995
1996 Januar
Das Buch "Demenz" habe ich mehrere Male gelesen, meistens nachts bis 1 Uhr. Als mir klar wurde, was ich hinter mir, und vor allem noch vor mir hatte, habe ich Rotz und Wasser geheult. Ich hatte schon eine 8-jährige Alzheimer-"Karriere" hinter mir, ohne es zu wissen. Letztendlich habe ich die Krankheit angenommen und mir gesagt: Das Leben soll so weitergehen wie bisher, wenn auch eingeschränkt. Mein letztes Segelboot habe ich 1996 schon verkauft. 25 Jahre habe ich auf dem Plöner See gesegelt, aber ich wusste, dass ich in Zukunft keine Zeit mehr haben würde. Im März 1999 habe ich dann noch einen neuen Wohnwagen gekauft, eine Spezialausführung mit extra großem Waschraum mit fest eingebauter Dusche und Warmwasser aus dem Hahn. Wir sind bis September noch regelmäßig zum See gefahren. Dann kamen immer wieder die Depressionen. Rita rannte orientierungslos durch die Wohnung »Ich will nach Hause! Dies ist nicht mein zuhause. Die Sachen sind alle gestohlen.« Sie lief abends 5 bis 6 Mal die 6 Etagen rauf und runter. Sie lief im Dunkeln mitten auf der Straße bis zum Hubschrauberlandeplatz der Bundeswehr.
Auch in Godau lief sie häufig weg. Das erste Mal haben wir sie mit 4 Mann 2 Stunden lang gesucht. Schließlich fanden wir sie in 3 Km. Entfernung an einer Schulbushaltestelle. Sie wollte nach Hause fahren - Spaziergänge von 20 Minuten waren normalerweise schon zuviel für Sie. Wenn Rita aber ihre Aggressionen ablief, marschierte sie 3 - 4 Km. über Stock und Stein quer durch den Wald.
Seit 1997 bin ich Mitglied in der Alzheimer Gesellschaft. Einmal im Monat treffen wir uns in der sogenannten Börse. Hier kann jeder seine Probleme vortragen. Was der eine schon hinter sich hat, hat der andere noch vor sich. Ratschläge gibt es immer. Ich habe dann Tagesdementenstätten besucht, um meine Frau auch mal am Tage für ein paar Stunden loszuwerden.
Im Hause hatte sich viel verändert. Mitbewohner gaben Rita nicht mehr die Hand aus Angst, sie würden sich anstecken! Viele waren völlig hilflos, sie wussten nicht mehr, wie sie mit uns umgehen sollten. Auch auf dem Campingplatz gab man mir auf Umwegen zu verstehen, wir sollten nicht mehr kommen. Das wäre eine Zurschaustellung der Krankheit. Obwohl Rita die alten Camper nicht mehr erkannte, so war sie zu allen freundlich und belästigte niemanden. 1998 Goldene Hochzeit
Anschließend fuhren wir auf Hochzeitsreise. Ein Luxushotel in Ilsenburg im Harz war unser Ziel. Leider konnten wir keine großen Spaziergänge mehr machen, weil Rita nicht mehr lange laufen konnte. Trotzdem haben wir viel gesehen.
Im September 1998 waren wir in Boltenhagen. Es war ein betreuter Urlaub, organisiert von der Alzheimer Gesellschaft Münster. Jeder Patient hatte eine Pflegerin, ich hatte also auch Urlaub.
Die Sprachlosigkeit nimmt ständig zu. Nach 2 Worten versanden die Gedanken, dann folgt nur noch ein sinnloses Gebrabbel. Alle Fragen muss ich so stellen, dass sie mit JA oder NEIN beantwortet werden können. Ich muss langsam und deutlich sprechen, auf die Antwort warten. 1999
Ein anderes Problem war das Trinken. Wenn ich ihr 1 Tasse Kaffee und ein Glas Most oder Orangensaft einflößen konnte, war ich froh. Sie wollte einfach nicht. Manchmal hat sie den Most einfach in die volle Kaffeetasse geschüttet. Das war nicht gerade prickelnd. Gegessen hat sie zwei Scheiben Toastbrot, jeweils in 10 kleine Stücke geschnitten. Das Frühstück konnte schon 1 Stunde dauern. Krämpfe
Vom 6. bis 27. 8. 99 habe ich mit Rita in Godau Urlaub gemacht.
Ab 11. 8. 99 hatte sie im Schlaf öfter kleine Krämpfe und zitterte sehr stark. Dazu kamen immer wieder Aggressionen. "Du bist ein Unmensch!" Am 14. 8. 99 war es besonders schlimm. Sie wollte sich nicht waschen lassen.
Am 1.9.99 (Mittwoch) sind wir nach Boltenhagen in den betreuten Urlaub gefahren. Wir hatten einen Rollstuhl, damit waren wir beweglich. Für Rita hatte ich eine tolle Pflegerin (Antje), ich brauchte mich um nichts kümmern! Wir wohnten in einer 3 Zimmer Eigentumswohnung, Die Pflegerin Antje wohnte mit bei uns. Rita aß und trank gut und kam zusehends zu Kräften. Nach 4 Tagen konnte sie wieder allein aufstehen und in der Wohnung umhergehen.
Anschließend fahren Antje und ich wieder nach Boltenhagen, ich habe noch 3 Tage Urlaub. Frau Speetzen von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg setzte sich beim behandelnden Arzt dafür ein, dass Rita verlegt würde. Donnerstag 9. 9. 99.
Am Sonntag war ich um 13:30 Uhr bei Rita. Sie schlief noch. Der Kotfleck war immer noch an der Wand. Rita war völlig bekleckert. Sie hatte nur eine große Windel an, lange Hose und Sweatshirt. Keine Unterwäsche. Mein Wunsch mit Rita im Rollstuhl in den Garten zu gehen, löste ziemliches Unverständnis aus. Die Schwester tat so, als hätte ich ihr einen unsittlichen Antrag gemacht. Schließlich gelang es aber doch. Auf dem Flur lag in einem Bett ein älterer Mann, den Unterkörper völlig entblößt. Eine alte Frau, nur im Hemd und Windel irrte ca. 20 Minuten auf dem Flur umher. Im Dienstzimmer saßen 4 Pflegekräfte, tranken Kaffee und teerten ihre Lungen! Auf mein Drängen wurden sie dann aktiv. Montag 13. 9. 99
Die medikamentöse Einstellung war schwierig und langwierig. Rita bekam im Anfang Diazepam, Novotril und Amantadin. Rita reagierte sehr sensibel auf die Medikamente. Das machte die Einstellung so schwierig.
In dieser Nacht habe ich von ausgefallenen Zähnen geträumt. Meine Oma sagte immer, das bedeutet, dass ein Mensch stirbt. 1.10.99
5.10.99
DUnser Hausarzt hatte Bedenken - ich auch. Im Oktober 1999 hatte ich im AK Wandsbeck einen Pflegekursus gemacht. Angemeldet hatte ich mich schon im Sommer. Unserem Hausarzt habe ich im Oktober erklärt, dass ich Rita zu Hause pflegen wollte. "Wollen Sie sich das antun? Können Sie das überhaupt? Es gibt doch so schöne Heime. Die Heime, die ich gesehen hatte, haben mich in meiner Absicht bestärkt, es zu Hause zu versuchen. Mit dem Arzt habe ich dann vereinbart, dass Rita nicht eher entlassen würde, als zu Hause alles bereit sei. Ich richtete also das Pflegezimmer ein. Mit einer Kreissäge haben meine Söhne das Ehebett auseinander gesägt. Ritas Bett kam auf den Boden. Dann kam der Maler. Eine große Neonröhre wurde an der Decke installiert. Und dann ging's erst richtig los. Das elektrische Pflegebett bekam ich innerhalb von 14 Tagen. Auch den Infusionsständer, die Dekubitusmatratze, Toilettenstuhl, Windeln, Sondennahrung, die Überleitungen usw. usw. bekam ich ziemlich schnell und alles, was man sonst so noch braucht, der viele notwendige Kleinkram. Das Problem war nur, wo bekomme ich das alles? Wer schreibt die Rezepte und was bekommt man ohne. Glücklicherweise habe ich ein gutes REHA-Team und einen tollen Pflegemarkt gefunden, der mir auch mal weiterhilft, wenn ich noch kein Rezept habe. Wenn Not am Mann ist, werden sie sehr schnell tätig. Als ich notfallmäßig ein Absauggerät brauchte, hatte ich es am nächsten Vormittag. Aber der Rollstuhl kam erst nach Monaten. Da brauchten wir ihn nicht mehr. Meine Herrenkommode wurde umfunktioniert. So dass heute alles neben dem Bett steht. Pflegedienst
3 lange Wochen habe ich dicke Bretter gebohrt, bis alles komplett war. Ich hatte schon Blasen an den Ohren vom Telefonieren und Organisieren. Heute würde mich manches Krankenhaus um die Ausstattung beneiden. Es war ein langer Weg. 6. Dezember Nikolaustag!
Diesmal stellte mir der Krankentransport meine Rita im Tragstuhl vor die Tür! Es war ein kläglicher Anblick. Mit Magensonde, spitzfuß und Dekubitus ersten Grades! 2 Markstück-große Stellen am Po. Mit Mirfulan und viel Geduld haben wir es wieder hinbekommen. Donnerstag 13. 4. 2000
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