Mein Name ist Jochen Schulze, ich bin 38 Jahre alt, verheiratet und habe zwei
Kinder (Sina 9 Jahre, Jonas 6 Jahre).
Ich bin Dipl.-Ing. (Bauingenieur) und selbständig als beratender Ingenieur
im Bereich "Projektmanagement und Bauleitung" tätig. Mein in Partnerschaft
geführtes Ingenieurbüro besteht aus insgesamt 6 Mitarbeitern.
Meine Frau Petra organisiert unseren Haushalt und betreut unsere beiden Kinder.
Betroffen ist mein Vater, 66 Jahre alt, der seit etwa 6 - 8 Jahren, an Alzheimer erkrankt ist.
Er ist (1994 pensionierter) Studiendirektor, der am hiesigen Gymnasium Mathematik
und Sport unterrichtet hat.
Meine Mutter, 58 Jahre, ist Realschullehrerin (Mathematik und Englisch) mit halber Stelle.
Gemeinsam bewohnen sie ein Einfamilienhaus.
Mein Vater, dem die Diagnose "Alzheimer" mit Sicherheit zu irgendeinem Zeitpunkt
mitgeteilt wurde, hat nie mit uns darüber gesprochen. Wir haben die
Diagnose erst sehr viel später direkt von seinem Hausarzt, der ein
guter Freund meiner Eltern ist, erfahren. Unsere Versuche, mit ihm darüber
zu reden, hat er strikt ignoriert, blockiert und vehement und teilweise
auch aggressiv abgelehnt.
Seitdem ist dieses Thema ihm gegenüber absolut tabu.
Alzheimer bezieht er nie auf sich selbst, er redet allenfalls von seinen Gedächtnisproblemen.
1991
Auf dem Weg in den Sommerurlaub haben meine Eltern einen recht schweren Autounfall
in Norwegen, den sie jedoch mit viel Glück und geringen Verletzungen
relativ unbeschadet überstehen, meine Mutter ist am Steuer eingeschlafen.
(Dies wirft er ihr heute als Ursache und Verschulden seiner "Situation" vor).
Schwere Kopfprellungen mit Gehirnerschütterung bei beiden, mehrere Kiefer-
und Jochbeinanbrüche bei meinem Vater, die jedoch alle ohne Operationen
verheilen können.
1991 - 1993
Mein Vater stellt noch in 1991 bei sich (zunehmende) "Wortfindungsprobleme"
fest, ohne daß uns dies bislang aufgefallen ist.
Er vermutet einen Zusammenhang mit dem Autounfall und konsultiert seinen Hausarzt.
Es folgen viele verschiedene Untersuchungen, von denen mein Vater immer nur spärlich
oder gar nicht berichtet.
Nach Auskunft meines Vaters stellen der Hausarzt und ein anderer Arzt schließlich
fest "Da ist etwas, wir wissen aber nicht genau, was es ist."
Ende 1993
Mein Vater, der seit langer Zeit zunehmende Beschwerden in der Hüfte hat,
lässt sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen, ein zeitlich umfangreicher Eingriff.
Der Hausarzt und Freund meines Vaters lässt hinsichtlich der "Wortfindungsprobleme"
nicht locker und veranlasst eine CT (oder MRT). Auch hier erfahren wir
alle (einschl. meiner Mutter) nichts über den Befund. Der Wunsch meiner
Mutter, bei dem Abschlussgespräch mit dem Arzt dabeisein zu dürfen,
wird von meinem Vater vehement bis aggressiv abgelehnt.
-- Heute denken wir, dass er bereits ganz klar weiss, was mit ihm los ist
und er dies (vielleicht auch zum "Schutz" seiner Familie) verheimlichen
wollte --
Frühjahr1994
Wir erfahren einen "Zufalls-Nebenbefund" der CT / MRT : Geschwulst auf der
Hirnanhangdrüse / Hypophyse.
Die operative Entfernung erfolgt kurz darauf : Gewebe ist gutartig. Durch die
frühzeitige Erkennung bleibt die Beeinträchtigung der Hypophyse
gering, der direkt danebenliegende Sehnerv ist überhaupt noch nicht
betroffen. Nachfolgend werden zur Regulierung des Hormonhaushaltes 1/4-jährliche
Depotspritzen dauerhaft erforderlich.
Mein Vater beschliesst, sich so schnell wie möglich pensionieren zu lassen
und scheidet im Sommer 1994 aus dem Schuldienst aus.
Als Begründung meiner Mutter gegenüber : ich will nicht erleben,
dass ich wie ein Depp vor der Schulklasse stehe und nach Worten suchen
muss.
Der Zusammenhang zu seinen "Wortfindungsproblemen" war mir damals überhaupt
nicht bewusst.
1995
Mein Vater segelt mit seinem Freund (und Miteigner des gemeinsamen 12m - Schiffes) von
Mai bis Oktober mit wechselnden Mitseglern aus der Ostsee bis um das Nordkap
nach Kirkenes und zurück. Eine harte und anstrengende Tour, bei der
sich schon "Eigenarten" zeigen, die die Partnerschaft der beiden teilweise
auf eine harte Probe stellen.
Ich besuche meinen Vater zusammen mit meiner Mutter für 2 Wochen in Nord-Norwegen,
um mit ihm gemeinsam dort oben zu segeln. Meine Mutter spricht eines morgens
zum ersten Mal (und auch zum letzten mal in meinem beisein) unter Tränen
den Verdacht "Alzheimer" hinsichtlich der "Wortfindungsprobleme" meinem
Vater gegenüber aus, da sie hierüber kurz zuvor in einem Buch
gelesen hatte und Parallelen in den Symptomen wiederfand.
Die Reaktion : verlegenes Grinsen meines Vaters (dieser Blick ist mir heute
noch total gegenwärtig und ich interpretiere ihn heute als "wissend") und
die Antwort:
Naja Jochen, Du kennst ja Ingrid, die macht sich ja schon immer bei den kleinsten
Kleinigkeiten total verrückt.
Das wars, danach habe ich nie wieder mit ihm über Alzheimer gesprochen.
1996
Ich kann mich nicht entsinnen, ob sich für mich augenfällige Veränderungen
gezeigt haben. Ich glaube, daß ich mich auch weigerte, über
dieses Thema angesichts der Leistungsfähigkeit meines Vaters nachzudenken.
1997
Im Frühjahr meldet sich meine Mutter und teilt uns mit, dass auf vehementes
Nachfragen beim Hausarzt (und Freund meiner Eltern) ihr Verdacht auf Alzheimer
bestätigt wurde. Da sie noch nicht in der Lage ist, darüber zu
reden bittet sie uns, einen Termin beim Arzt zu machen.
Dort wird uns der vorbeschriebene Werdegang mit entsprechenden Hintergründen
erläutert und eine Demenz mit Verdacht auf Alzheimer bestätigt.
Sog. IQ-Tests haben von 1993 bis 1997 einen Verfall von einem Wert über
150 auf nur noch unter 90 gezeigt. Gerade diese (ehemals) überdurchschnittliche
Intelligenz hat es möglich gemacht, dass mein Vater die Krankheit,
die ihren Ursprung sicherlich schon vor den "Wortfindungsproblemen" aus
1991 hatte, so lange "geheim" halten und viele Ausfälle kompensieren
konnte. Zu diesem Zeitpunkt schreibt mein Vater bereits z.B. den Namen
seines langjährigen guten Freundes auf einen kleinen Zettel, den er
bei Bedarf aus der Tache zieht, um seine Gedächtnisschwäche zu
kaschieren......
Meine Familie und ich beschließen, in die Nähe meiner Eltern zu ziehen
um ihnen nach unseren Möglichkeiten helfen zu können und eine
nahegelegene "Anlaufstelle" für meine Mutter zu bieten, wenn die Nerven
blank liegen und Gedankenaustausch gefragt ist. Der Umzug erfolgt noch
im Herbst 1997, so dass wir nun in unmittelbarer Nachbarschaft (ca. 300 m) zu meinen Eltern leben.
Der Hausarzt rät Mitte 1997 davon ab, das einzige bis dahin existierende
Medikament zu verabreichen, da es unsägliche Nebenwirkungen mit sich
bringt (ich habe den Namen leider vergessen, aber das Medikament wurde
meines Erachtens auch bereits in 1997 wieder vom Markt genommen).
Seit 1998 erhält mein Vater Aricept, welches wir auch nach der Markteinführung
von Exelon nicht mehr gewechselt haben.
Nachdem wir die Diagnose kennen, erscheinen viele Verhaltensweisen und Reaktionen
in einem ganz anderen Licht und werden verständlich bzw. erklärbar.
Ein Abbau der Leistungsfähigkeit wird erkennbar.
Das (vormals intensiv vorhandene) Interesse am aktiven Tennis lässt nach,
zum Ende des Jahres spielt er bereits nicht mehr. Als Begründung (unserer
Ansicht nach eine Ausrede, da er an anderer Stelle überhaupt keine
Beeinträchtigungen zeigt) schiebt er Probleme mit der operierten Hüfte
vor. Wir vermuten eher Schwierigkeiten beim Punktezählen etc.
In 1997 und 1998 segelt er noch, wenn auch mit nachlassender Intensität.
Besonderen Wert legt er auf die Tatsache, dass er z.T. Wochenendtörns ALLEIN unternimmt.
Er reicht nach wie vor seine Berichte zum Fahrtenwettbewerb beim Segelclub
ein, die er in wochenlanger Arbeit erstellt. Auch wenn er diese z.T. mit
falschen Bildern versieht (die Reise durch großen und kleinen Belt
in dänischen Gewässern versieht er mit Bildern aus Norwegen)
"reicht es" immer noch für Preise bei diesem Wettbewerb, da er trotz
allem noch mehr unternimmt als die meisten seiner Clubkollegen. (Die Jury
ist von mir über seine Krankheit informiert und stellt keine peinlichen
Fragen nach den Bildern, sondern urteilt allein nach gesegelter Distanz,
also echter Leistung!)
1998
Meine Mutter besucht schon seit längerem den Gesprächskreis der Alzheimer-Angehörigen-Gruppe
in der hiesigen Familienbildungsstätte, der von der Leiterin eines
Pflegeheimes in der Nähe "moderiert" wird.
Sie berichtet, daß diese Gespräche ihr sehr viel Kraft und Unterstützung
geben und ich beschließe, mein "Verdrängen der Tatsache
dieser Krankheit", welches mir ein permanent latentes schlechtes
Gewissen verschafft, endlich abzulegen und mich "offensiv"
mit der Krankheit meines Vaters auseinanderzusetzen.
Den Anfang unternehme ich, indem ich diese 14-tägig stattfindenden Gespräche
ebenfalls besuche. Die Gruppe ist (noch) sehr klein, zwischen 2 und 4 Angehörige.
Die Berichte der anderen, deren kranke Angehörige (allesamt älter
als mein Vater) sich in den unterschiedlichsten Stadien/Verläufen
dieser Krankheit befinden, berühren mich zutiefst und schockieren
mich gleichzeitig in der unausweichlichen Erkenntnis dessen, was wir alle
zwangsläufig noch alles werden ertragen müssen.
Es bleibt und überwiegt jedoch die Erfahrung, daß das Reden über
Sorgen und Ängste befreien kann und die Schilderungen dessen, was
andere erleben, eine hilfreiche Vorbereitung auf eine unausweichliche Zukunft
ist, deren Härte man in den Gesichtern der Angehörigen andeutungsweise
zu erahnen vermag.
Im Sommer segeln wir (meine Eltern, meine Kinder und ich) eine Woche gemeinsam.
Hier zeigt sich, daß mein Vater die Bedienung des GPS zur Navigation schon
nicht mehr beherrscht, aber auf Grund seiner 35-jährigen Segelerfahrung
in diesem Revier über eine beeindruckende Detailkenntnis hinsichtlich
Wassertiefen, Untiefen, Küstenverlauf, Häfen etc. verfügt,
bei der er ohne Seekarten auskommt. (Ich kann seine Angaben, nach Blick
in die Seekarten, alle bestätigen).
Er war schon immer ein umsichtiger und vorsichtiger Segler, ist inzwischen
aber extrem und geradezu "über" -vorsichtig geworden.
Manöver, bei denen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, bereiten
ihm deutliche Probleme.
Mein Vater will eine ihm gehörende Wohnung verkaufen.
In einem Gespräch hierüber ist zu erkennen, daß er mit einigen
diesbezüglichen Zusammenhängen starke Probleme hat und ich biete
an, dies für ihn zu übernehmen.
Er, der immer versucht hat, ohne die Hilfe anderer auszukommen und über
ein messerscharfes mathematisches Urteilsvermögen verfügte, überlässt
mir die Abwicklung dieses Verkaufes und erteilt mir hierzu sogar Vollmacht
über sein Konto --- deutlicher konnte sich der Abbau seiner Leistungsfähigkeit
für mich nicht dokumentieren !!!
Meine Mutter berichtet, daß sie gemeinsam mit meinem Vater "zufällig"
eine Fernsehsendung zum Thema Alzheimer angesehen hat und versuchte, mit
ihm darüber ins Gespräch zu kommen.
Er äußerte hierzu nur sein größtes Bedauern für
die betroffenen Patienten und mit dem Satz: "Was
für eine schreckliche Krankheit, man kann nur froh sein, wenn man
davon verschont bleibt" war sein Interesse daran erloschen.
Er bezog nichts, aber auch gar nichts davon auf sich selbst.
Nach wie vor Selbstschutz, oder schon mangelnde Fähigkeit, Zusammenhänge
zu knüpfen ?
1999
Mein Vater segelt kaum noch und kümmert sich fast überhaupt nicht
mehr um das Schiff. Hat er es vergessen oder hat er seine eigenen Unzulänglichkeiten
erkannt und vermeidet die zwangsläufigen Mißerfolge ??
Die Tatsache, daß die Schiffe im Oktober aus dem Wasser genommen wurden
und ins Winterlager gegangen sind, hat er überhaupt nicht registriert.
Inzwischen erkennt er langjährige Freunde z.T. nicht mehr, an Namen kann er sich
ohnehin nicht oder nur noch schwer erinnern. Unterhaltungen mit ihm sind
äußerst problematisch, man erahnt mehr, worauf er hinaus will,
als daß er es mit Worten verdeutlichen kann.
Die Dinge des täglichen Lebens kann er überwiegend noch leisten,
auch wenn einige (z.B. Körperhygiene) deutlich nachlassen.
Die Arbeitszeit meiner halbtags berufstätigen Mutter kann er allein verbringen,
er fährt mit dem Rad noch in die Stadt zu seiner Bank.
Sorge um den Verbleib seines Geldes (Unabhängigkeit) und der Wille ein Auto
zu kaufen (Freiheit) sind mittlerweile nahezu die einzigen Triebfedern seines Handelns.
Nunmehr seit Mitte 1998 will er ein eigenes Auto kaufen, "damit er auch mal raus
komme".
Wir wollen dies unbedingt verhindern, da er nicht mehr fahrtüchtig ist,
was sich in verschiedenen Situationen auch deutlich gezeigt hat.
Es war ihm nicht auszureden, dieses Thema wurde nach und nach zu einem Reizthema
(er explodiert von jetzt auf gleich) und ist daher inzwischen absolut tabu.
Es ist mit ihm definitiv nicht darüber zureden.
Also haben wir nach anderen Möglichkeiten gesucht, einen Kauf möglichst
schonend zu verhindern, mindestens jedoch zu verzögern.
Als erste Maßnahme habe ich das entsprechende Sparguthaben auf ein neues
Konto (unter meinem Namen) gelegt und ihm erklärt, daß ich sein
Geld, "wie mit ihm vereinbart", angelegt habe und es wegen der dreimonatigen
Kündigungsfrist nicht sofort verfügbar ist. Dies hat etwa ein
Jahr funktioniert, er hat bei seinen gelegentlichen Nachfragen bei mir
zum Stand der Kündigungsfrist die ständigen "neuen" Termine,
die ich ihm nannte akzeptiert und die Verzögerungen nicht bemerkt.
Dann jedoch wurden seine Nachfragen intensiver und er begann, auch bei der Bank
nachzufragen.
In schlechten Phasen fährt er jeden Tag zur Bank um sich erklären
zu lassen, was mit seinem Geld ist, auf welchen Konten wieviel ist, was
mit Kündigungsfristen ist etc., vergißt dies dann aber wieder
.... usw.
Die Leute in der Bank, die ich über seine Krankheit aufgeklärt habe,
sind rührend bemüht, ihm immer wieder alles zu erklären
und ihn zu beruhigen und rufen auch schon mal bei meiner Mutter an um mitzuteilen,
wenn er sich in der Bank wieder aufgeregt hat.
Sofern es nicht gelingt ihn zu beruhigen, verfällt er in Depressionen und
reagiert meiner Mutter gegenüber mit großen verbalen Aggressionen,
bis hin zur verriegelten Haustür und damit Aussperren meiner Mutter.
Die Sorge um sein Geld ist für ihn ein Wahnsinns-Stress.
Als diese Situation im August 1999 mal wieder bis zur Unerträglichkeit
für meine Mutter eskalierte, hat sie ihm die Sparbücher an die
Hand gegeben, was innerhalb kürzester Zeit für Entspannung sorgte.
Leider sollte diese Entspannung nur kurz sein, da er sich, wie ich es für
den Fall, daß er über sein Geld meint verfügen zu können
vorhergesagt hatte, sofort bei VW ein Auto bestellt hat. Zum Glück
einen nicht sofort lieferbaren Neuwagen, der Anfang November zur Verfügung
stehen sollte.
Der Geschäftsführer des Autohauses, ein Bekannter von mir und ein
ehemaliger Schüler meines Vaters der sich schon wunderte, daß
mein Vater ihn nicht wiedererkannt hatte, hat auf Bitte meiner Mutter (ohne
Wissen meines Vaters) den Vertrag storniert. Ich konnte meinen Bekannten
bislang dazu bewegen, die Nachfragen meines Vaters, wann denn nun das Auto
kommt, mit "Lieferproblemen etc." zu beantworten, um das Problem des stornierten
Vertrages weiter hinauszuzögern.
Oktober 1999
Vorgestern (28.10.99) war mein Vater wieder bei mir da man ihm bei der Bank mitgeteilt
hatte, daß für die Auszahlung seines Geldes meine Unterschrift
erforderlich ist. Den Zusammenhang begriffen hat er jedoch nicht.
Ich konnte ihn wiederum davon überzeugen, daß das "Festgeld", welches
ich auf seine Bitte vor zwei Wochen gekündigt hatte (gelogen), erst
im Januar 2000 ausgezahlt wird.
Er hat aber vehement verlangt, daß ich die entsprechende Unterschrift
zur Auszahlung des Geldes sofort leiste, damit er "die Sache" nun endlich
abgeschlossen hat.
Vertrösten konnte ich ihn nur dadurch, daß ich ihm mitteilte, daß für
diese Unterschrift ein Formular der Bank benötigt wird, was ich aber
demnächst bei Gelegenheit besorgen wolle.
Daraufhin ist er zufrieden und in guter Stimmung nach Hause gegangen.
Ich weiss nicht, wie lange diese Ausrede jetzt vorhält, vermutlich aber
nicht sehr lange.
Uns gehen langsam die Ideen aus, wie wir das Autofahren "auf (verhältnismässig)
sanftem Wege" verhindern können. Eine Anzeige mit Überprüfung
der Tauglichkeit, die zwangsläufig den Führerscheinentzug zur
Folge haben würde, kommt (noch) nicht in Frage, da dies zweifellos
zu einer Katastrophe mit unerträglichem Klima im Hause meiner Eltern
führen würde.
Wir spielen auf Zeit.
Als letzten Anker wollen wir versuchen ihn zu überzeugen, daß nach
solanger Fahrabstinenz (er selbst meint, daß er seit etwa 2-3 Jahren
nicht mehr gefahren ist, obwohl das letzte Mal erst einige Monate her ist)
"Auffrischungsstunden" bei einer Fahrschule erforderlich sind, in der Hoffnung,
daß er Defizite erkennt und von selbst Abstand nimmt.
Als meine Mutter dies ansprach, fand er, daß es eine gute Idee sei.
Wir hegen die Hoffnung, daß wir mit (reichlich) Fahrstunden wieder etwas
Luft bekommen und keine schwerwiegenden Maßnahmen ergreifen müssen.
Der Hausarzt regt an darüber nachzudenken, das Medikament (Aricept), welches
mein Vater schon über einen recht langen Zeitraum erhält, langsam
auszuschleichen.
Zweck soll sein, das ständige "Aufbäumen" und "Kämpfen"
meines Vaters gegen die Krankheit abzubauen, damit ihm dieser irrsinnige
Streß genommen wird. Er soll mehr Ruhe in sich finden, diese ständigen
Existenzängste mit großen Sorgen um Geld und Unabhängigkeit,
die Schlaflosigkeit, Depressionen, Aggressionen und Unruhen verursachen,
sollen gelindert werden.
Gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, daß dies mit einer, unter Umständen
auch rapiden, Verschlechterung der Merkfähigkeit und Orientierung
einhergehen wird.
Was für eine Entscheidung !!
Nach langen Überlegungen entscheidet meine Mutter, das Aricept langsam
abzusetzen. Wir unterstützen diese Entscheidung, da die Situation
inzwischen nicht nur für meinen Vater, sondern vor allem auch für
meine Mutter unerträglich geworden ist.
November 1999
Das Aricept ist fast komplett abgesetzt.
Seit zwei Wochen hat mein Vater die Themen Geld und Auto, sonst fast einziger
Inhalt seines Tuns, nicht mehr erwähnt, er war auch nicht mehr bei
seiner Bank.
Er ist überwiegend relativ guter Stimmung.
Allerdings haben Orientierung und vor allem Kurzzeitgedächtnis in den vergangenen
drei Wochen deutlich nachgelassen. Hieran leidet meine Mutter sehr -- "schuld
zu sein" an dem Nachlassen seiner Fähigkeiten.
Die Gesamtsituation scheint jedoch deutlich entspannter.
"Neue" Probleme gibt es jedoch zwischen uns Angehörigen.
Seit langen Wochen, eigentlich schon Monaten, beschäftigt meine Frau und
mich die Art und Weise, in der meine Mutter in der Bewältigung der
Probleme meines kranken Vaters (und damit natürlich auch ihrer Sorgen,
Ängste, Nöte ...) mit uns umgeht.
Es hat sich zu einer quälenden Einseitigkeit entwickelt, bei der wir nur
noch "Mülleimer" sind, dessen Eigenleben zweitrangig zu sein scheint.
Meine Mutter nutzt unser Angebot, jederzeit vorbeikommen oder anrufen zu können
inzwischen soweit aus, daß sie mich / Petra auch tagsüber mit
Anrufen, wie z.B. :
"Heute morgen war die Situation wieder absolut dramatisch, Papa hat gerade ..
dies oder das gemacht / gesagt und ist (wie immer wegen seines Geldes)
völlig außer sich und wütend auf mich. Ich bin noch in
der Schule, traue mich gar nicht nach Hause ... und hab' jetzt keine Zeit
und muß auflegen, wir reden ein andermal weiter, tschüss....."
|
Kaum / keine Chance zu antworten, geschweige denn, eine weiterführende
Diskussion anzufangen. -- Sie hat gerade keine Zeit. -
Auch auf spontane Angebote, "ich lasse Arbeit Arbeit sein und fahre nach Hause,
damit wir uns sofort treffen und reden können" meistens nur die Reaktion
:"Nee, ich habe gleich einen (privaten !) Termin, ich melde mich später".
--- Zu 95% bleibt das "sich melden" jedoch aus und wir, absolut hängengelassen,
spekulieren, was wohl los ist, was zu tun sein könnte usw.
Tagsüber folgen auf solche Anrufe endlose Telefonate zwischen Petra und mir, in
unserer Freizeit endlose Diskussionen, meistens ist für uns dann auch
der Abend "gründlich versaut".
Oft genug kriegen wir uns auch noch gründlich "in die Wolle", weil wir
mit dieser Situation einfach nicht umgehen können.
Ganz oft hat sich aber auch, nachdem einer von uns, nach Umverlegen von Terminen,
Unterbringung der Kinder o.ä., dann zu meinen Eltern ging, herausgestellt,
daß die Situation im Hause meiner Eltern bereits bei Rückkehr
meiner Mutter völlig entspannt war. --- Wir hatten aber (unnötige)
Stunden der Unruhen und Ängste ... ---
Aus (falscher) Rücksicht meiner Mutter gegenüber, damit sie nicht
noch mehr Belastungen tragen muß etc., konnten wir ihr unsere Sorgen
und Gefühle nicht mitteilen.
Wir bringen es nicht fertig Kritik zu üben, weil sie in der jetzigen Situation
überhaupt nicht kritikfähig ist.
Wir fressen also alles in uns hinein und versuchen, "es" zwischen uns (Petra
und mir) zu "regeln".
Vor etwa drei Wochen jedoch "war der Mülleimer voll".
Bislang war meine Frau stark, wenn ich schwach war.
Inzwischen stellte ich bei mir jedoch echte psychische Probleme fest, die sich in
Depressionen, Niedergeschlagenheit, Krankheitsgefühl.... äußerten
und oft bei Nebensächlichkeiten auftraten (Wohl der berühmte
Tropfen im Faß...).
Petra steht seit einer Woche (mindestens zwei Meter) völlig neben sich.
In dieser Situation haben wir es Anfang November, nachdem wir darüber bereits
oft andeutungsweise nachgedacht hatten, endlich geschafft, uns selbst helfen zu lassen.
Nach langem Gespräch mit der "Moderatorin" der hiesigen Alzheimer-Angehörigen-Selbsthifegruppe
(sie ist zugleich Leiterin des wirklich außerordentlichen Pflegeheimes
"Haus Schwansen") konnte ich endlich, wenn auch zunächst "im Schutz"
der Gespächsrunde der Selbsthilfegruppe, meiner Mutter "einen groben
Überblick" über unser eigenes Seelenleben darstellen und klarstellen,
daß sich unser Umgang ändern muß.
Denn nur wenn wir einen gemeinsamen Weg zum Umgang mit dieser Situation finden,
kann unser Haus (und Telefon) auch weiterhin für sie offen bleiben
und auch nur dann können wir alle drei auch gemeinsam und (hoffentlich)
wirkungsvoll helfen.
Leider hat sich meine Mutter erst nach "deutlichem Druck" durch uns
dazu bewegen lassen, hierüber mit uns zu sprechen.
Sie gab zu erkennen, daß sie sich mit weiteren ("unseren")
Problemen eigentlich nicht belasten will / kann, da ihre Situation schon
schlimm genug ist.
Nur mit Mühe konnten wir ihr (hoffentlich) klarmachen, daß es nicht
allein um uns, sondern um einen für uns gangbaren Weg ihr zu helfen
und damit auch und vor allem um sie geht.
Bei der darauffolgenden Gesprächsrunde der Angehörigen war sie nicht
dabei.
Als ich meine Eltern danach aufsuchte sagte sie, daß sie sich an diesem
Tag der Runde nicht gewachsen fühlte (!!!), dabei hat sie seit knapp
2 Jahren nicht ein einziges Mal diese Gelegenheit, "Probleme abzuladen",
versäumt !
Wenigstens ging es meinen Eltern anscheinend recht gut, sie wollten abends sogar gemeinsam
ein Konzert besuchen und mein Vater war freiwillig dazu bereit, "gute"
(und vor allem frische) Sachen anzuziehen.
Ich kann nur hoffen, daß wir es schaffen, eine gemeinsame Gesprächsbasis
zu finden die es uns erlaubt, offen und vorbehaltlos miteinander umzugehen
damit wir das, was die Zukunft uns noch abverlangen wird, gemeinsam (er-)
tragen können.
Meinem Vater wünsche ich, daß er noch möglichst lange so locker
und scheinbar entspannt bleibt, wie ich ihn heute abend erleben durfte.
Mal sehen, was morgen kommt ........
Im November 1999
© Jochen Schulze für die
|