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Ilse Biberti
Hilfe, meine Eltern sind alt
Wie ich lernte, Vater und Mutter mit Respekt und Humor zu begleiten
208 Seiten, € 18,-
Ullstein



Hilfe, meine Eltern sind alt

Wie ich lernte, Vater und Mutter mit Respekt und Humor zu begleiten
208 Seiten, € 18,-
Ullstein

Leseprobe (S. 207 - 211) aus dem Buch von
Ilse Biberti

Zwischen Ohnmacht und Wahnsinn

Am nächsten Tag kommt eine Gutachterin vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse. Ich hatte einen Antrag auf Pflegestufe gestellt. Sie will für die Pflegekasse überprüfen, ob mein Vater einen Anspruch hat. Als ich die Tür öffne, erkenne ich, dass es die gleiche Gutachterin ist, die auch meine Mutter untersucht hat. Spontan entfährt ihr vor einer Begrüßung: »Sie sehen aber scheiße aus!« Wir müssen beide lachen. Ich bitte sie, sich nicht als Gutachterin der Pflegeversicherung vorzustellen, mein Vater würde sofort alle Antworten verweigern, er möchte für sich nichts beanspruchen. Die Gutachterin stimmt zu. Ich humple an einer Krücke ins Wohnzimmer vor, kündige sie als eine Bekannte aus dem medizinischen Bereich an, die sich von seinem Befinden ein Bild machen möchte. Vielleicht kann sie uns helfen. Bereitwillig beantwortet mein Vater alle Fragen. Er ist nicht in der Zeit orientiert, hat kein Kurzzeitgedächtnis. Die Gutachterin sieht sich auch sein Schlafzimmer an und das Arbeitszimmer. Mit Blick auf seine Dekorationen sagt sie: »Gut, ich hab alles gesehen. Ich schreibe mein Gutachten. Sie hören dann von der Krankenkasse.« Wir verabschieden sie, ich bringe sie zur Tür, sie schaut mich freundlich an. »Sie wissen, dass Ihr Vater Alzheimer hat?« Seit diesem Moment weiß ich, was gemeint ist, wenn es heißt, man verliert den Boden unter den Füßen. Ich stehe ohne jedes Gefühl, falle innerlich ins Bodenlose. Es rauscht in mir, ich sehe nur noch Strukturen, als wenn ich an einem endlosen Strichcode vorbeirase:

»NNNNNNNNeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnn.« Irgendwie verabschiede ich die Gutachterin. Die Tür ist zu. Ich kann nicht mehr stehen, lege mich platt auf den Boden. Spüre mich weiter im freien Fall. Mein Kreislauf fährt Amok. Zwischen Ohnmacht und Wahnsinn. Mein Geist möchte gern abhauen. Es ist verlockend … Das Leben ist zu kurz für ein »Ja. Aber …«! Das ist mein Leitspruch seit langem, also weiter, marsch.

In einem Badewannentagtraum renne ich über dünnes Eis, hinter mir knackt es unaufhörlich, Risse springen nach rechts und links, manche überholen mich. »Ich bin ein Möbelstück, ein leeres sinnloses Möbelstück«, höre ich meinen Vater sagen. Ich renne über Wasser … Erreiche ich das andere Ufer? Und was bedeutet das?

Ich koche Entenbrust mit Backpflaumensauce und Spätzle, Champagner in Kristallkelchen, Milchreissuppe, natürlich. Mein Vater ist begeistert: »Was feiern wir?«

Ich deute aufs Ohr, er setzt seinen Hörbügel auf: »Ja, bereit.«

»Wir trinken auf das Leben.«

»Auf den Rest, der noch da ist, ich glaube …«

Meine Mutter unterbricht ihn: »Halüüü«.

Mein Vater brüllt unvermittelt: »Ich muss doch sagen dürfen, dass ich nicht leben will.«

»Dann trink doch für einen besseren Tod, verdursten tut weh«, antworte ich ihm.

Mein Vater stutzt: »Da haste vielleicht Recht.«

»Halüüü Vita!«, schmettert meine Mutter, sie erhebt ihr Glas, stößt mit uns an. »Halüüü Vita!!!«, sagt sie noch einmal. Das versteht auch mein Vater. »Na, wenn es denn sein muss.« Es wird unser neuer Trinkspruch. »Halüüü Vita!!!«

Leben, Tod, Gewissheit? Entscheidung? Mein Vater will sterben.

Seine Erwartungen im Leben sind prognostiziert: nur noch der Tod. Aber wie? Die Frage ist, in welchem Alzheimerstadium ist er. »Ich falle zurück ins Tierische. Ich bin ein toter Gegenstand«, hat er mir versichert, und: »Du hast das Kommando, was mache ich denn jetzt?« – »Was du willst. Du bist ein freier Mann, du hast gut für dich vorgesorgt, du kannst dir alle Wünsche erfüllen. Was möchtest du am liebsten machen?«, frage ich ihn. »Ich weiß nicht, am liebsten ins Bett.« – »Wenn ich zu Hause wäre, würde ich das auch tun«, ist meine Antwort. »Ich darf mich also hinlegen? « – »Ja, ich hole dich dann.« – »Gut, das ist gut.«

Mir ist, als hätte man mir mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen. Was ist jetzt? – Was wird von mir erwartet? Die nächsten Wochen beobachte ich meinen Vater. Mir fällt auf, dass er seinen wahren Zustand sehr geschickt vor uns verborgen hat. Er öffnet keinen Schrank mehr, weiß nicht, wo seine Sachen sind. Da in seinem Schlafzimmer die Wäsche getrocknet wird, bedient er sich vom Wäscheständer. Was er nicht direkt sieht, ist nicht existent. Seine Hörgeräte benutzt er nicht mehr. Dafür seinen Hörbügel. Er weiß nicht, wie man sich und wo man sich wäscht. Was zieht man wie an? Ich finde Checklisten, die er vor einem Jahr geschrieben hat. Eine Anleitung fürs Waschen. Eine Anleitung fürs Anziehen. Jetzt weiß er nicht mehr, wo seine Listen sind. Dann, was er denn eigentlich sucht. Er war Steuerberater, er denkt, er hat noch seine Kanzlei. Weiß, dass er den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Nächtelang werde ich in das Klientel eingewiesen, in die geheimen Zusammenhänge eingeweiht. Ich habe ihm fertige Steuererklärungen von längst verstorbenen Kunden vorzulegen. »Punkt drei Uhr!« Punkt drei ist es manchmal 380 Mal am Tag. Er hat Phasen der Aggression, der Verzweiflung, der Mutlosigkeit, der Klarheit, die ihn noch mehr bestürzen. Wie ein Besessener sucht er Unterlagen für die diesjährige Steuererklärung im September! »Ich hatte doch Einnahmen. « Ich deute auf mein Ohr, warte, bis er seinen Hörbügel eingeschaltet hat: »Bereit.«

»Nein, hast du nicht, nur Rente.«

»Du irrst dich, das kann nicht sein. Ich hab doch was dazu verdient.«

»Nein, du hast Rente als einzige Einnahme. Deine Kanzlei ist seit 20 Jahren geschlossen.«

»Das ist nicht wahr! Das kannst du mir nicht einreden.«

»Du bist 86 Jahre alt.«

»Na und?« Einen Monat lang ist das sein Hauptthema. Morgens, mittags, abends und vor allem nachts. Ich lege überall Zettel hin:

»Du hattest keine Einnahmen, nur Rente.«

Ich lege ihm die Kopie seiner eigenen Steuererklärung vor.

Er sieht sie sich an: »Richtig, da steht’s, dann muss das also stimmen. Ich habe nie gelogen!«

»Du musst den Überblick behalten, versprichst du mir das? Ich möchte nicht in den Knast wegen Steuerhinterziehung.«

Ich verspreche es. An diesem Tag vielleicht 500 Mal feierlich.

»Und deine Mutter? Sind wir nicht gemeinsam veranlagt? Sie muss mir immer eine Summe ersetzen, weil sie durch mich eine Steuererleichterung hat.«

Nach drei Tagen und etwa 1780 Fragerunden, statistisch gerechnet alle 146 Sekunden, hat er akzeptiert, dass ich die Last der Steuererklärung für ihn trage. Dann findet er einen alten Zettel. Obwohl die Notiz durchgestrichen ist, liest er seine alte Frage:

»Hatte ich Einnahmen?« Die Fragerunde geht von Neuem los.

Betrunken traue ich mich auf die Internetseite der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. Das macht mich fertig, ich muss mich übergeben. Alles in mir weigert sich, diese Realität zuzulassen, ich kann die Inhalte nicht weiterlesen. Sein Neurologe sagt, solange er seine Umgebung wahrnimmt, sollte er noch zu Hause bleiben. »Noch zu Hause bleiben?« Ich soll ihn in ein »Abgezockt und totgepflegt«–Heim geben? Wo und wie finde ich eine andere Lösung?

Was ist nur los? Meine Mutter, die das Abenteuer und Menschen braucht, die eloquent ist, die es liebt, über Literatur zu reden, ins Theater zu gehen, hat ein zerstörtes Sprachzentrum. Mein Vater, der seine Rituale, Ordnung, das Alleinsein liebt, gern liest, Rätsel löst, noch mit 80 begonnen hat, sein Englisch aufzufrischen, »verliert« sein Gehirn. Beide sind direkt im Zentrum ihrer Persönlichkeiten getroffen. Meine Mutter kämpft, ist optimistisch, will leben. Mein Vater leidet, ist pessimistisch, will sterben. Ich möchte allmächtig sein, heilen können. Die Unmöglichkeit meines Wunsches macht mich wütend. Ohne Macht, ohnmächtig sein, ist für meinen Charakter schwer zu ertragen. Als Regisseurin oder Autorin bin ich für die künstlerisch-künstlich erschaffene Welt die Urheberin, die Schöpferin, die »Göttin «. In meinen Wut-Fantasien möchte ich zu Herrn Ratzinger, jetzt Papst Benedikt, gehen, den Schlüssel zu Petrus verlangen, mal mit dem Kompetenzträger für das Leiden Tacheles reden. Kapitulation? Einsicht? Unterordnung? In mir wütet es. Mein inneres Kind tobt. Es verliert gegen Gott.

Mein Vater bewacht mich. In der Nacht setzt er sich vor mein Bett, betrachtet mich. Wenn ich mich bewege, werde ich angesprochen. Dieses Buch schreibe ich meist in seiner Leseecke unter dem Fenster. Den Laptop auf den Knien, Ohropax in den Ohren. Meine Mutter hat ihre Fernsehphobie in der Reha abgelegt. Sie hat den Fernseher fast auf maximale Lautstärke gestellt, schläft aber meist dabei. Oft räumt mein Vater seine »Picasso- Ausstellung« von dem zweiten Sessel, setzt sich zu mir. Meine Mutter ist eifersüchtig, meist kommt sie nach einer Weile. Gehe ich in die Küche, folgt die Karawane. Jeden zweiten Tag muss ich meinen gebrochenen Fuß dem Arzt vorstellen. Obwohl mich jemand ersetzt, kommt es jedes Mal zu einem dramatischen Abschied. Letztlich fliehe ich dann aus der Wohnung. Gehe ich am Abend in die Badewanne, folgt mir meine Mutter unter dem Vorwand ihrer Inkontinenz, sitzt dann aber auf der geschlossenen, inzwischen gepolsterten Toilette und redet auf mich ein. Sie zwingt mich, unhöflich zu werden. Mein Vater kommt drei Minuten später: »Ach, hier seid ihr.« Er setzt sich dann auf einen Küchenstuhl in die offene Tür. »Hab ich was verpasst?« Ich schließe die Augen, entspanne? Nach einer weiteren Minute findet mein Vater, ich bade zu lange, das wiederholt er 20 Mal, bis meine Mutter ihn in Märchensprache, sein Hörbügel fehlt natürlich, anschreiend aus dem Bad treibt und ich sie. Dann siede ich mich wie einen Hummer, schwanke halb ohnmächtig im Bademantel aufs Sofa. Meine Mutter lacht lauthals: »Ein weißer Elefant.« Ich verstehe nicht, was sie meint. Sie macht eine Geste für ein überdimensionales, riesiges Wesen mit dickem Bauch! »Elefant!« So unterstützt, schlafe ich bei einer »Telenutella«-Beschallung ein.

Alles was meinen Vater irritiert, was neu ist oder ihm schon immer Angst gemacht hat, wird in einer Endlosschleife wiederholt. Alte Traumata tauchen auf. »Ich war ein ungeliebtes Kind, ich wurde von der Oberschule genommen«, »Mein Leben ist durch den Krieg sinnlos verschwendet«, »Mein Vater hat mich missachtet.« Argumentativ dagegenzuhalten, bringt nichts. Es gefällt ihm, dass ich ihm zuhöre, frei von wertenden Kommentaren, ihn nur ab und zu ermutige, weiterzusprechen. In dieser Phase erzählt er mir alles nur noch 40 Mal täglich. Ich frage ihn, ob er seinen Vater nicht einfach seinen Vater sein lassen könnte: »Da du ihn nicht kennst, sind das doch alles Spekulationen. Du hast 81 Jahre deines Lebens ohne ihn erfolgreich gemeistert. Da kannst du doch stolz auf dich sein! Vielleicht konnte er unter den damaligen Umständen nicht anders handeln?« – »Klar habe ich ihm verziehen, warum nicht, ich hab keinen Hass mehr«, bekomme ich prompt als Antwort. Sein Körper spricht eine andere Sprache: Vor mir sitzt ein kleines verstocktes Kind. Ich versuche, ihm meine Liebe deutlicher zu zeigen. Wir betreten schüchtern neues Terrain.

Er bettelt mich um seinen Tod an, wieder und wieder: »Wenn es bloß aus wäre«, »Ich schon im Himmelreich wäre«, »Es ist meine Zeit abzutreten«, »Petrus wartet doch schon« in 1000 und eins Varianten. Ich soll ihm einen würdigen Abgang versprechen, bei unheilbarer Krankheit, »Die ich ja schon habe. Auf keinen Fall will ich eine Amputation, dass musst du mir ersparen!« Ich verspreche es ihm. Wir haben es auch in seiner Patientenverfügung vermerkt. Ich zeige sie ihm. Wir sind beide ernst, verletzlich. Ich bitte ihn mitzuwirken, seine Depression zu überwinden. Danach können wir gemeinsam eine Entscheidung treffen. »Wieso gemeinsam, ich sterbe doch, nicht wir zusammen, das geht dich doch eigentlich gar nichts an!«

Das ist in der Tat ein neuer Ansatz. Es geht mich nichts an. Stimmt das? Darüber möchte ich erst einmal nachdenken. Das Recht am eigenen Leben. Ja. Das Recht, trübsinnig zu sein? Ich wende ein: »Du möchtest meine aktive oder passive Hilfe. Du hast mir deinen Wunsch mitgeteilt. Ab dem Moment muss ich doch auch eine Entscheidung treffen: 1. Wie stehe ich zu deinem Wunsch, 2. Wenn ich bereit bin, dir zu helfen, … 3. dann aktiv oder passiv? 4. Was muss ich ganz praktisch tun, 5. was hat das für Konsequenzen für mich: psychisch und rechtlich? Du entscheidest über dein Leben, aber wie du es verlässt, darüber müssen wir doch zu einem Konsens kommen?« »Wiederhole das noch mal, das war mir zu schnell.« Ich wiederhole es.

»Gut, gut, Hauptsache, du hilfst mir.«

Ich verspreche, mich zu informieren. Seine Bitte, es darf mir kein Schaden zugefügt werden und es darf für ihn definitiv kein Zurück mehr geben, bestätige ich als unsere gemeinsame Gedankengrundlage zum Thema Sterbehilfe.

»Vielleicht kannst du ohne Hilfe sanft sterben, wenn du vorher Klarschiff machst.«

»Du meinst, sonst muss ich vor Petrus mein ganzes Leben noch mal ansehen?«

»Wenn’s den gibt, ja.«

»Glaubst du daran?«

»Nicht so wörtlich in der kirchlichen Tradition, ich denke, ich muss im Leben immer wieder Klarschiff machen, sonst kommt kein neuer Wind in die Segel.«

»Du bist also auch Atheist.«

»Ich bin inspiriert von den Zehn Geboten, den Regeln aus dem Talmud, den Gedanken des Dalai Lama, den hermetischen Gesetzen. Ich weiß noch nicht genau, was oder wer ich bin. Ich kokettiere noch.«

»Deine Mutter denkt, sie kommt ins Paradies.«

»Ich glaube, wir sind schon im Paradies.«

»Dann müssen wir jetzt alle nackt rumlaufen und dürfen keine Äpfel essen?« Wir lachen beide, leise. Nach einer Pause frage ich mich und ihn: »Wann ist das Leben nicht mehr lebenswert?«

»Wenn du dich verlierst.«

Ich beschließe, die Irritationen, die seine Endlosschleifen auslösen, positiv zu nutzen. Ich kaufe eine wunderschöne einzelne Rose, stelle sie in sein Arbeitszimmer. Es funktioniert, viele Dutzend Male kommt mein Vater zu mir, beschreibt die Schönheit der Rose, dann hat er es vergessen: »Da war doch was?« Er entdeckt sie erneut. »Hast du mir die Rose hingestellt?«

»Ja.«

»Wunderbar, die Natur ist doch einzigartig, so etwas Schönes und völlig sinnlos.«

»Ihr Sinn ist, dich zu erfreuen.«

»Ja, das ist ihr gelungen, und dir auch, danke.«

Diesen Trick wende ich jetzt täglich mit neuen schönen Sachen an.

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