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Rettungsringe für Pflegende

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Überleben im Meer der Verwirrtheit: Rettungsringe für Pflegende

Demenz-Kranke leben in einer Wirklichkeit, die Menschen mit einer anderen "Normalität" verunsichert und bedroht. E. Schützendorf zeigt "Schleusen" auf, die es "gesunden" Reisenden erleichtert, aus einer Welt in die andere zu wechseln.

Der Viersener Sozialpädagoge geht von der Beobachtung aus, daß Pflegende häufig zusätzlich zur Beschäftigung mit Demenz-Kranken "nützliche" Tätigkeiten verrichten, wie zum Beispiel Wäschefalten. Gleichzeitig klagen sie über die Doppelbelastung. Wäre es für einen solchen Helfer nicht leichter, ohne zusätzliche Aufgabe ausschließlich für die Kranken zuständig zu sein? Könnte er die umherirrenden und brabbelnden Menschen dann nicht besser ertragen und individueller betreuen? fragt Schützendorf. Seine Antwort ist ein klares "nein".

Nach seiner Auffassung sind die "nützlichen" Tätigkeiten eine notwendige Entlastung. Sie ermöglichen es dem Pflegenden erst, die ver-rückenden alten Menschen längere Zeit zu ertragen. Außer nützlichen Tätigkeiten gibt es noch eine Fülle weiterer "Rettungsringe", die ein Abtauchen in die Welt der Verwirrten verhindern. Manche Maßnahmen ähneln eher einer "Schleuse", die den Pflegenden aus dem Meer der Verwirrtheit wieder in normales Fahrwasser bzw. auf eine Insel der Normalität hievt. Zu ihnen gehören kurze belanglose Gespräche mit Kollegen, das Verlassen der Station (um z.B. frische Waschlappen zu besorgen), Schimpfen, der Rückzug ins Stationszimmer, auf das "stille Örtchen" oder in die eigene Krankheit ("Mein Rücken", "Mir ist so schlecht").

Ver-rückt ist die Welt weder schlechter noch gefährlicher

Schützendorf ermuntert alle Pflegenden dazu, offen und bewußt sich gesunde Rettungsringe, Inseln oder Schleusen zu gewähren. Kein "Normaler" kann über längere Zeit "Verwirrten" das bieten, wovon er annimmt, daß sie es brauchen (wie Trost, Nähe, Stille und Geborgenheit). Mitunter müssen Helfer schon nach wenigen Augenblicken wieder auftauchen, Luft holen, Kraft schöpfen und sich an ihrer Normalität erneut ausrichten, die geprägt ist von Funktionalität, Logik, Rationalität, Nützlichkeit, Schnelligkeit, Plan- und Berechenbarkeit, Ordnung, Reinheit, Ökonomie und Schönheit.

Der Viersener Sozialpädagoge gibt zu bedenken, daß das Meer der Verrücktheit mit seinen anderen Normalitäten möglicherweise nur den "Funktionierenden" bedrohlich vorkommt. Schreien, Jammern, Weinen, Schmutz, unkontrollierte Lust, Bösartigkeit, Sprunghaftigkeit, Irrationalität, Widersprüchlichkeit, Plan- und Ziellosigkeit haben prinzipiell keine geringere Berechtigung als die Werte und Erlebnisqualitäten der Normalen; zudem können sie durchaus auch annehmlich erlebt werden. Man müsse nicht jeden Ver-rückenden auf die Insel der Normalität zerren, um ihm etwas Gutes zu tun, warnt Schützendorf. Vielen werde man gerechter, wenn man sie schwimmen läßt und mehr nach dem Sinn als nach der Nützlichkeit ihrer Handlungen fragt.

Zwischen den Welten reisen lernen

Genau so wichtig wie die Fähigkeit, aus der Verwirrtheit in die Normalität zurückkehren zu können, ist die Beweglichkeit in umgekehrter Richtung.

Weltenwechsel sind zum Beispiel in folgenden Bereichen erforderlich und sinnvoll:

* Schnelligkeit - Langsamkeit

* chronologische Zeit - Eigenzeit

* Planbarkeit - Unberechenbarkeit

* Linearität - Sprunghaftigkeit

* Logik - Widersprüchlichkeit

* Verstand - Lust

* Friedfertigkeit - Bösartigkeit

* Ordnung - Chaos

* Nützlichkeit - Spiel

* Selbstbeherrschung - Triebhaftigkeit

* Reinheit - Schmutz

* Funktionalität - Eigen-Sinn.

Wer sich nicht auf die Welt der Verwirrtheit einlassen kann, wendet auf diese unnachgiebig die Regeln der Normalität an und sorgt damit für Konflikte und Streß.

Typische Normalitätsregeln sind beispielsweise:

- "Die Zeit muß genutzt werden."

- "Erfolg mißt sich am meßbaren Ergebnis."

- "Ordnung ist mehr wert als Unübersichtlichkeit."

- "Arbeit und Spiel müssen getrennt werden."

Wie kann man sich nun das Eintauchen in die Welt der Verwirrtheit erleichtern? Schützendorf zeigt Pflegenden dazu folgende Selbsterfahrungsmöglichkeiten bzw. "Schleusen" auf:

Elementarschleusen: Das Erleben archaischer Elemente wie Wasser, Erde, Steine und Höhlen erleichtert den Übergang von der Welt des Verstandes in die Welt der Sinne.

Matsch- und Stuhlschleusen: Das enthemmte Suhlen und Matschen mit Schlamm, Creme, Rasierschaum, Fingerfarben und Sand erhöht die Bereitschaft, alte Menschen mit Blumen, Kaffee, Brot, Kot, Kosmetik, Kartoffeln oder Teig spielen zu lassen.

Zeitschleusen: Wer seine Eigen-Zeiten herausfindet, Langsamkeit entdeckt und Warten genießt, kann mit dem Eigen-Tempo Demenz-Kranker besser leben.

Kaputtmachschleusen: Wer voller Lust Kartons zertrampelt, Luftballons zum Platzen gebracht, Zeitungen zerrissen oder Porzellan zerschlagen hat, wird es alten Menschen eher gestatten können, nützliche Dinge zu zerstören.

Spielschleusen: Das zweckfreie Spiel mit Spielsachen aller Art öffnet den Blick für den Sinn ver-rückenden Handelns.

Mut zum Abtauchen

Normal denkende Pflegende würden sich vermutlich verrückt vorkommen, vermutet Schützendorf, wenn sie sich während der Pflegeschicht selbst ein warmes Fußbad gönnen würden. Lieber nutzen sie die gleiche Zeit, um einem barfüßigen Demenz-Kranken zehnmal hintereinander vergeblich Schuhe anzuziehen. Erst nachdem sie sich selbst auf ein Fußbad (sprich auf die Erlebnisqualität einer ver-rückten Welt) eingelassen haben, wird es ihnen vielleicht leichter fallen, dem gleichen Patienten das Erlebnis barfüßigen Herumlaufens zuzugestehen.

Der Autor plädiert dafür, in den Lebensraum der Verwirrten "Schleusen" einzubauen, die uns "Normalen" den Zugang in die Welt der Verwirrten erleichtern. Gerüche, Klangkörper und Spielgeräte sowie Symbole für die Brüchigkeit unserer Normalität (z.B. mehrere Uhren mit unterschiedlichen Zeiten) könnten den Anfang bilden.

E. Schützendorf: Schleusen im Meer der Ver-rücktheit. Das Miteinander von Verwirrten und Pflegenden erträglicher und effektiver machen. Altenpflege 21 (1996), 261-265


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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