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Kinder des Draussen

von

Judith Sarah Fricke

Ein bisschen vergesslich wird man. Fand Tanja. Alte Menschen werden das. Aber bei Elisabeth wurde es schlimm.

Wie schlimm es wurde, merkte Tanja zum erstenmal nach diesem Spaziergang. "Ach, war das herrlich!" schwärmte Elisabeth. "Und all diese wunderbaren Tannenzapfen auf dem Weg!"

Nirgends hatte es Tannenzapfen gegeben.

Sie verabschiedeten sich auf dem Balkon des alten Gutshauses. Hier hatte sich Elisabeth früher schon immer von Tanjas Mutter verabschiedet. Elisabeth freute sich unheimlich über Tanjas Umarmung. Aber sie schien nicht zu wissen, wer Tanja eigentlich war. Einfach ein Mensch, den sie mochte.

Zu Weihnachten bekam Tanja einen Brief von Elisabeth. Die Adresse war nicht in ihrer Schrift geschrieben. Wahrscheinlich in der ihrer Enkelin. Elisabeth hatte sehr viel Papier gebraucht, sie hatte schrecklich gross geschrieben. Tanja verstand kaum etwas von dem, was in dem Brief stand. Nur, dass Elisabeth davon sprach, dass sie beide sich wiedersehen wollten. Irgendwann....

"Sie hat Alzheimer", sagte ihr Enkel am Telephon. Tanja besuchte den Gutshof nicht mehr.

Elisabeth schrieb nie wieder. Ihre Enkelin schickte Rundschreiben an alle Verwandten, in denen sie über den Gesundheitszustand ihrer Grossmutter berichtete. Körperlich ginge es ihr gut, schrieb sie. Aber ihr Geisteszustand verschlechtere sich von Tag zu Tag. Anfangs schrieb sie noch, Elisabeth sei fröhlich und zufrieden und freue sich, wenn jemand mit ihr spreche, auch, wenn sie meistens ausser ihrem Sohn niemanden mehr erkenne. An manchen Tagen jedoch sehe sie alles ziemlich klar, erkenne ihre Enkel, spräche von gewissen Erlebnissen aus alter Zeit und erinnere sich an ihre Schwester, manchmal sogar an Tanja.

Mit der Zeit änderten sich die Briefe. Sie wurden ernster. Elisabeth lachte nicht mehr. Sie nahm nichts mehr wahr um sich herum. Sie erkannte bald auch ihren Sohn nicht mehr. Niemanden. Ihre Kinder und Enkel konnten nicht mehr allein für sie sorgen, eine Pflegerin war auf das Gut gekommen.

"Wo ist Tante Elisabeth?" fragte sich Tanja. Dann musste sie an die Situationen denken, in denen sie diese Worte laut gerufen hatte. Als Kind, wenn sie mit ihrer Mutter die Ferien auf dem Gutshof verbrachte. Sobald sie das Haus auch nur von weitem sah, wenn sie mit Reisetaschen beladen den kleinen Pfad hinaufwanderten. Hinunter ging immer so viel schwerer, wenn sie nach zwei Wochen Tante Elisabeth und ihren Cousin verlassen musste, um wieder in die Schule zu gehen. Sie liebte diese Ferien und sie liebte Tante Elisabeth, diese immer fröhliche junge Frau, die niemals ausruhte, die niemals müde zu sein schien, die den ganzen Tag arbeitete und diese Arbeit als Freizeitbeschäftigung zu sehen schien. Tanja verfolgte sie auf Schritt und Tritt. 'Kannst du Elisabeth denn nicht einmal eine Minute in Ruhe lassen?' fragte ihre Mutter immer. 'Ach, lass sie doch', lachte Elisabeth dann, 'sie stört mich überhaupt nicht'. Das stimmte nicht, denn Tanja behinderte sie extrem bei der Arbeit mit ihren ewigen Fragen und dem ständigen 'Mitmachen-Wollen', das spürte sie selber. Aber Tante Elisabeth war ihr niemals böse, sie war nie irgend jemandem böse. Sie konnte wahrscheinlich gar nicht böse sein. Dazu hatte sie wohl zuviel Böses erlebt. Denn das hatte sie, aber davon erfuhr Tanja erst viel später. Damals wusste sie nur, dass sie ihre Tante liebte, und dass sie den Augenblick hasste, an dem ihre Mutter mit ihrer Schwester auf dem Balkon stand, auf das Tal niederblickte und sich verabschiedete. Tanja wollte nicht gehen. Ihre Mutter wahrscheinlich ebensowenig.

Auch nach dem frühen Tod ihrer Mutter machte Tanja oft Urlaub auf dem Gutshof, später mit ihrem Mann, noch später mit ihren Kindern. Elisabeth liebte diese ebenso wie ihre eigenen Enkel und liess sich von ihnen nur allzu gern bei der Arbeit stören. Allzu oft kamen sie nicht, aber Elisabeth vergass keinen Geburtstag. Sie konnte wunderbare Briefe schreiben, voller Geist und voller Humor, sie kannte die Interessen von jedem von Tanjas Kindern in den verschiedenen Lebensaltern, und ihre Briefe handelten dementsprechend von den verschiedensten Dingen.

Tanja hob alle Briefe auf und alle Briefumschläge, auf denen Elisabeth in kleiner, vornehm-altmodischer Schrift zügig die Adresse daraufgeschrieben hatte. Tanja hatte sie früher einmal beim Briefeschreiben beobachtet. Viele Briefe nacheinander hatte sie an diesem Tag geschrieben, und sie kannte die Adressen aller Leute auswendig, denen sie schrieb.

Dann wurden Tanjas Kinder immer älter und die grauen Haare der Grosstante immer weisser. Und jetzt war sie verschwunden, diese Grosstante. Nur noch ein Körper war da, ein Körper ohne Seele, und dieser Körper lebte weiter. "Aber wo ist die Seele?" fragte Tanja."Wo ist Elisabeth?"

Tanjas Schwiegertochter bekam ein kleines Mädchen. Lea hiess es.

Dann kam die Einladung. Elisabeths Enkel luden Tanjas Sohn mit seiner Frau und dem Baby auf den Gutshof ein. Er fragte seine Mutter, ob sie nicht mitkommen wolle. Sie wollte nicht. Und sie kam mit.

Der Anblick war fürchterlich.

"Wo ist Tante Elisabeth?" fragte sich Tanja wieder. "Wo ist der Mensch, den ich gekannt habe? In diesem Körper jedenfalls nicht. Ist er einfach verschwunden, in Nichts aufgelöst?"

Dann fiel ihr Blick auf die kleine Lea im Arm ihres Sohnes. Noch ein Mensch, der gewickelt werden musste. Noch ein Mensch, der kein Bewusstsein hatte. "Wo ist Lea?" dachte Tanja. "Wo ist der Mensch, den ich einmal kennen werde? Sein Körper ist schon da. Langsam wird sich der Mensch daraus entwickeln, wird lachen lernen und die Namen anderer Menschen. Aber was ist jetzt?"

Elisabeths Enkelin brachte Kaffee und Kuchen. Elisabeth ass nicht mit, sie musste künstlich ernährt werden. Da sassen sie nun und tranken Kaffee aus Elisabeths alten Kaffeetassen, dieses wunderbare Service, von dem Tanja als Kind einmal eine Tasse kaputtgeschmissen hatte, und später ihr Sohn einen Kuchenteller. Und Elisabeth hatte beide Male nur gelacht. Jetzt kannte sie dieses Geschirr nicht mehr, sie kannte keine Erinnerung mehr. Tanja fragte sich, wie die Leute auf dem Gutshof das Leben mit der ehemaligen Elisabeth nur aushielten. Vielleicht hatten sie sich daran gewöhnt, vielleicht war diese Frau für sie jetzt Elisabeth, während sie die andere vergessen oder wenigstens verdrängt hatten.

Das Baby drehte den Kopf und sah die alte Frau an, die mit leeren Augen in einem Rollstuhl sass.

Zwei Frauen standen sich im Dazwischen gegenüber.

"Ich will endlich hinein" sagte Lea.

"Und ich will endlich hinaus" sagte Elisabeth.

"Wie ist die Welt, Elisabeth?"

"Ich glaube, es ist eine sehr glückliche Welt. Und eine sehr unglückliche. Ich habe sie oft weinen gehört. Aber man kann auch vor Freude weinen."

"Ich will nicht in eine unglückliche Welt."

"Nur in einer unglücklichen Welt kann man auch glücklich sein. Wäre ich fähig gewesen, längst Vergessenes zu vergessen, längst verheilte Wunden zu schliessen, längst versiegte Tränen zu trocknen und längst verstummte Schreie zu unterbrechen, dann wäre ich ein glücklicher Mensch gewesen. Und ich bin dankbar, dass ich es nicht konnte."

"Es ist kalt hier draussen."

"Ja. Ein kalter Wartesaal. Ich hoffe, mein Zug fährt bald. Auf der anderen Seite muss es warm sein. Aber du, Lea, du wirst dich an die Kälte gewöhnen müssen. Wo du für die nächste Zeit hinkommst, ist es manchmal sehr, sehr kalt."

"Das macht mir nichts aus. Aber ich finde es scheusslich, so dazwischen zu stehen. Halb da und halb dort."

"Du hast recht. Ich halte es jedenfalls nicht mehr lange aus. Ich will diese Welt da unten verlassen, ganz verlassen....Lea, bitte lächele einmal."

"Elisabeth! Schau nur, es geht nicht! Was ist mit mir los? Wo ist mein Lächeln?"

"Das habe ich mir gedacht. Es wird schon drüben sein."

"Schaut nur! Die Kleine hat gelächelt!" schrie Leas Vater überglücklich.

"Tatsächlich", sagte Tanja.

"Du musst nicht mehr lange warten, Lea. Bald wirst du drüben sein."

"Ich werde die vorige Welt und das hier alles vergessen, nicht wahr?"

"Ja. Aber das macht nichts. Du wirst dich wieder daran erinnern, in vielen, vielen Jahren, wenn du wieder draussen bist. Hoffen wir nur, dass dir der Ausstieg schneller gelingt als mir. Ich warte hier nun schon seit fünf Jahren. Ich bin es leid."

"Ich würde dir so gerne helfen, dass du schneller hinaus kannst...."

"Das ist lieb von dir. Aber es geht nicht. Leider."

"Vielleicht doch. Vielleicht kann ich meinen Körper von hier aus doch schon ein wenig lenken."

"Nein! Das darfst du nicht tun! Es ist lieb von dir, aber du darfst es nicht. Nein, Lea!!!"

"Ich hätte meine Urgrosstante schrecklich gerne kennengelernt." sagte Lea.

"Ja" sagte ihre Grossmutter Tanja. "Sie war eine wunderbare Frau. Aber sie ist schon einige Jahre vor ihrem körperlichen Tod gestorben."

"Wie war er eigentlich? Dieser körperliche Tod? Du schaust schon wieder weg. Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?"

Tanja seufzte. "Ich fürchtete, du würdest dir schreckliche Vorwürfe machen. Aber ich denke, du bist jetzt alt genug, das nicht zu tun. Also, sie ist an einem Herzinfarkt gestorben. Wir waren auf dem Gutshof zu Besuch. Das war übrigens auch der Tag, an dem du das erste Mal gelächelt hast, das weiss ich noch ganz genau. Und dann begannst du plötzlich, aus voller Kehle markerschütternd zu schreien. Da bekam Elisabeth ihren Infarkt. Alle haben sich Vorwürfe gemacht, dass sie die alte Frau in die Nähe des Babys gelassen hatten."

"Aber das ist ja schrecklich! Ich bin also an ihrem Tod schuld?"

"Du kannst doch am wenigsten dafür. Du warst ja erst einige Monate alt. Und ausserdem war es das beste, was Elisabeth passieren konnte."

"Das finde ich gar nicht! Sie hätte noch so lange weiterleben können!"

"Ja, aber wie! Das ist kein Leben, wenn du mich fragst. Elisabeth hätte so ein Leben nicht gewollt, hätte sie davon gewusst."

"Es ist trotzdem schrecklich!" schrie Lea wütend und lief aus dem Zimmer. "Ich hätte Elisabeth gerne kennengelernt", dachte sie, als sie eine Porzellantasse zerschlug.

© Verlag Ricco Bilger 1998: Zwischenwelten

Im Jahre 1997 wurde der Literaturpreis des Kantons Fribourg dem anonym eingereichten Buch ZWISCHENWELTEN verliehen, in dessen Mittelpunkt eine Alzheimer-Geschichte steht. Es stellte sich dann heraus, dass die 17jährige Autorin des Buches 10 Tage zuvor aus dem Leben gegangen war, nach dem Unfalltod ihres Geliebten in den USA.


 

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