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coverscan :Das Gedächtnis des Körpers

Rezension zu dem Buch von Joachim Bauer
 „Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“

von Jochen Wagner, Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.

...Autorenrezension in unserer Bibliothek

Einen weiten Bogen spannt das Buch von Joachim Bauer, Oberarzt für Psychosomatik und Psychotherapie. Selbst jahrelang in der neurologischen Forschung tätig, führt uns Prof. Bauer in die Grundlagen der Zellbiologie ein, um dann nahtlos eine Brücke zu den physischen Grundlagen unseres bewussten und unbewussten Daseins zu schlagen.

Exemplarisch vertieft der Internist und Psychiater Bauer anhand von Stress, Depression und Traumata die Zusammenhänge zwischen Genaktivität, dem Zustandekommen und Verfestigen von Nervenzellstrukturen bis hin zum messbaren Zusammenwirken einzelner Hirnbereiche, die für spezielle psychische Phänomene verantwortlich sind.

Diese Betrachtungsweise würde den Menschen aber nur als eine an seine physische und soziale Umwelt angepasste biologische Maschinen beschreiben. Glücklicherweise ist die Evolution inzwischen soweit vorangeschritten, dass für uns und die anderen höheren Leebewesen auch die umgekehrten Wirkmechanismen greifen. Fundiert belegt Prof. Bauer anhand neuer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, dass wir auch mit unserem eigenen Verhalten aktiv die Nervenzellstrukturen beeinflussen, welche ihrerseits durch unsere Gene gesteuert werden.

Ohne diese Rückwirkungskette wäre es nicht möglich, uns beispielsweise gezielt neues Wissen anzueignen. Das neue Wissen manifestiert sich im Gehirn durch neu entstandene Nervenzellverbindungen, die gemeinsam aktiviert werden ("feuern"). Geschieht dies häufig genug, so verfestigt sich das Gelernte zu sicher abrufbarem Wissen. Dies ist der übliche gewünschte Effekt. Umgekehrt gibt es aber auch Ereignisse (z.B. Traumata) oder Situationen (etwa lang anhaltender Stress, unbewältigte Depressionen, chronischer Schmerz) die von uns völlig unbeabsichtigt sehr stabile Nervenzellverbindungen entstehen lassen. Diese Strukturen beeinflussen unser weiteres Erleben und Weltverständnis (etwa im Sine von Optimisten und Pessimisten) massiv, wenngleich meist völlig unbewusst. Darüber hinaus haben sie erheblichen Einfluss auf unsere körperliche Befindlichkeit, was anhand des durch Stress und Depression geschwächten Immunsystems eindrucksvoll belegt wird.

Auf diese und weitere Themen geht Bauer im Hauptteil genauer ein. Dabei werden nicht nur die Ursachen für schwere psychische Störungen erläutert und wie diese ihren nachweisbaren Niederschlag in der Hirnstruktur finden sondern es wird auch aufgezeigt, wie diese vorzugsweise durch Psychotherapie ursächlich behandelt werden können. Zu nennen sind hier neben dem bereits erwähnten dauerhaftem Stress und Depressionen vor allem chronischer bzw. traumatisch erfahrener Schmerz, Auswirkungen von Folter und Misshandlung, sowie Vernachlässigung von Kindern, aber auch deren Reizüberflutung.

Bauer schließt den Kreis, indem er anhand neuer Forschungsergebnisse überzeugend nachweist, dass erfolgreich angewandte Psychotherapie auch messbare Spuren im Gehirn hinterlässt. In sofern kann ich das Buch all jenen empfehlen, die der provokante Untertitel "Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern", neugierig macht.

Das Buch wurde übrigens so verfasst, dass der Leser sich durchaus einem ihn interessierenden Kapitel (etwa über die Folgen kindlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs) zuwenden kann, ohne zwingend die vorherigen Kapitel gelesen haben zu müssen. Soweit für das Verständnis der Zusammenhänge notwendig, wird auf den Inhalt vorangegangener Kapitel noch einmal sehr gestrafft eingegangen, was zudem für den Leser des gesamten Werkes den positiven Nebeneffekt hat, dass alles Wesentliche so oft wiederholt wird, dass sich das Gelesene zum weitergebbaren Wissen verfestigt.

Ich gebe zu, dass ich den Überlegungen Bauers über die Formbarkeit biologischer Strukturen durch unseren Lebensstil und die Ausgestaltung unserer Beziehungen anfänglich skeptisch gegenüberstand. Ich fürchte, so wie mir, geht es auch vielen anderen Lesern. Von jedem wissenschaftlichen Werk, besonders aber wenn es derart gedankliches Neuland erschließt, kann der Leser erwarten, dass die Quellen genannt werden, die den vorgetragenen Fakten zugrunde liegen. Bauer vermeidet geschickt die üblicherweise zu diesem Zweck genutzten Fußnoten, indem er gewissenhaft alle Wissenschaftler und ihre Wirkungsstätten nennt, die mit ihren Forschungsergebnissen zu dem vorliegenden Werk beigetragen haben. Anhand der zitierten genannten Autoren findet man in dem ausführlichen Literaturverzeichnis leicht die Originalarbeiten. Dies stützt nicht nur die Glaubwürdigkeit von Bauers Darstellung, sondern ermöglicht es auch dem interessierten Leser, sich weiter in die interessante Materie zu vertiefen.

Wer sich dagegen lieber schnell einen Überblick über "Das Gedächtnis des Körpers" verschaffen möchte, kann dies anhand der prägnanten Zusammenfassungen tun, die sich am Ende eines jeden der 16 Kapitel finden. Jedes Kapitel ist nochmals in kleine Abschnitte mit eigener Überschrift unterteilt. Auch dies erleichtert das Verständnis und hilft den Faden nach einer Lesepause schnell wieder aufzunehmen.

Eine wertvolle Ergänzung finden die grundlegenden molekularbiologische Aspekte darstellenden Kapitel durch anschauliche Abbildungen, die durch eine Buchseite umfassende Erläuterungen im Detail erklärt werden.


So bleibt zum Schluss nur noch die Frage, warum dieses Buch vom AlzheimerForum, dem Internetauftritt der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V., empfohlen wird. In der Tat wird das Thema Alzheimer in dem Buch "Das Gedächtnis des Körpers" zwar mehrfach erwähnt, aber immer nur beiläufig:

  • So wird ausgeführt, dass pflegende Angehörige von Demenzkranken typische psychosomatische Alarmreaktionen zeigen, die durch eine Jahre andauernden Stress verursachende Überforderung herrühren. Diese schwächt auch das Immunsystem, so dass die Hauptpflegepersonen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit selbst einmal schwer erkranken, etwa an Krebs. Und dies um so mehr, je stärker der Pflegende subjektiv die Belastung durch die Betreuung des Demenzkranken empfindet. (Im Gegensatz zur objektiven Belastung - z.B. gemessen an der Pflegestufe - hängt das Maß der subjektiv empfundenen Belastung hauptsächlich von der zwischenmenschlichen Beziehung zum Erkrankten sowie zu anderen Familienmitgliedern ab.)
  • Pflegende Angehörige sind ebenso wie professionelle Pflegekräfte besonderer Gefahr ausgesetzt, ein Burn-out-Syndrom zu erleiden, da die Bertreuung von Alzheimer-Patienten nicht nur besonders schwierig ist, sondern der Demente darüber hinaus meist auch krankheitsbedingt kein positives Feedback - etwa in Form von Dankbarkeit - geben kann. Die Gefahr des Burn-outs steigt weiter durch fehlende soziale Unteerstützung und mit überhöhten Ansprüchen an die eigene Leistungsfähigkeit.
  • Bezogen auf den Alzheimer-Kranken selbst finden sich leider so gut wie keine Ausführungen. Zwar wird darauf hingewiesen, dass bei besonders gestressten Menschen eine deutliche Substanzminderung Hirnareal nachgewiesen werden konnte, das für unsere Gedächtnisleistung ein entscheidende Bedeutung hat. Hier hätte sich zumindest ein Verweis auf das bereits 1994 bei Schattauer erschienene Buch "Die Alzheimer-Krankheit" angeboten, in dem Bauer erstmals auf den möglichen Zusammenhang von Lebensführung in gesunden Jahren und der eingetretenen Demenzerkrankung (vaskulär oder vom Typ Alzheimer) eingeht.
    Abseits vom Mainstream wies Bauer bereits in diesem Übersichtswerk darauf hin, dass nicht die senilen Plaques der typische Marker für die Alzheimer-Krankheit sind, sondern die Verkümmerung der Nervenzellverknüpfungen. Diese Einschätzung passt übrigens exakt zu den Ausführungen, wonach sich unsere Wahrnehmungen und höheren kognitiven Leistungen auf Netzwerke von Netzwerken von Netzwerken ... der Nervenzellen im Gehirn zurückführen lassen. 
    Wer sich für den Zusammenhang von Alzheimer-Krankheit und Lebensführung interessiert, dem sei der Beitrag von Joachim Bauer aus dem kürzlich bei Schattauer erschienen Buch "Integrierte Medizin - Modell und klinische Praxis" empfohlen, der auch als Leseprobe im AlzheimerForum nachzulesen ist.
  • Eine weitere Möglichkeit zur Erwähnung der Alzheimer-Krankheit hätte sich im Kapitel 11 angeboten. Hier geht Bauer darauf ein, wie Enzyme der CYP450-Gruppe die Psychopharmaka abbauen. Diese Fähigkeit ist - erblich bedingt - individuell sehr unterschiedlich. Da Psychopharmaka hauptsächlich Fehlregulationen von Neurotransmittern gegensteuern, treffen diese Ausführungen auch auf die AChE-Hemmer zu, die derzeit als die wirksamsten Alzheimer-Medikamente genannt werden. Dieses Versäumnis wurde aber inzwischen von Prof. Bauer dadurch kompensiert, dass er dem AlzheimerForum einen entsprechenden Beitrag zur Verfügung gestellt hat.
  • Schließlich findet sich noch ein Hinweis, dass die Alzheimer-Krankheit nur zu ca. 1% durch einen genetisch bedingten Defekt zum Ausbruch kommt. Dieser Aspekt wurde aber ebenfalls in dem bereits erwähnten - 1994 bei Schattauer erschienenen - Buch ausführlich gewürdigt.

Neben all dem hat mir das Buch sehr zum Verständnis des nachfolgenden Beitrags "Fatale Störung auf der "Baustelle" Gehirn" geholfen, mit dem der Leipziger Hirnforscher Prof. Dr. Thomas Arendt neue Erkenntnisse zur Alzheimer-Krankheit schlüssig zusammenfasst . Da Arendt teilweise ein anderes Wording benutzt, sei der interessierte Leser darauf hingewiesen, dass zu den von Arendt so genannten "morphoregulatorisches Molekülen" die von Bauer erwähnten Nervenwachstumsfaktoren gehören, da diese die Morphologie (Form, Gestalt) der im Hirn befindlichen Nervennetzwerke beeinflussen.
Auch folgender Kernsatz Arendts war mir nicht unmittelbar eingängig: "Weil die beteiligten plastisch reagierenden Nervenzellen auch im Erwachsenenalter ihre Flexibilität behalten, sind sie für Störungen anfälliger als jene Neuronen, die nach Abschluss der kindlichen Hirnentwicklung von ihren Genen sozusagen an die kurze Leine gelegt werden und danach nur noch spezielle, eng umrissene Aufgaben erledigen. Und diese Anfälligkeit könnte die Weichen in Richtung Alzheimer stellen." Arendt will damit sagen, dass beim Alzheimer vor allem diejenigen Nervenzellen der Großhirnrinde und des Hippocampus untergehen, die über das erwachsene leben hinweg Einflüssen von außen gegenüber sensibel bleiben, die also nicht auf "Autopilot" fahren (wie z. B. bestimmte Zellen des Kleinhirns oder des Hirnstammes).


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