Pflegeklassen - eine wenig genutzte Möglichkeit zur Kostendeckungvon Jochen Gust |
Jede Pflegekraft weiß, dass der Zeitaufwand zur Versorgung Alter mit
bestimmten Krankheitsbildern höher ist, als es die reale Einstufung in eine
Pflegestufe durch den MDK "erlaubt".
Besonders deutlich wird dies bei der Pflege von Alzheimerkranken. Diese Menschen
benötigen eine Pflege der "besonderen Art". Im Verlauf der Demenz vom
Alzheimertypus kann es zu einer ganzen Reihe von "abnormen"
Verhaltensweisen kommen. Damit geht nicht nur eine beträchtliche psychische
Belastung für die Pflegenden einher, sondern dadurch ist diese Klientel bei
vielen alltäglich notwendigen Verrichtungen ein regelrechter
"Zeitfresser".
Die von den Pflegekassen empfohlenen Zeitkorridore in den
Begutachtungsrichtlinien sehen Zeitkorridore vor, die bei Einzelverrichtungen in
84,2% der Fälle überschritten werden (vergl. Studie zur Zeitbedarf in der
Pflege Demenzkranker; erschienen 2000 im Altenpflege Forum, Verfasser: Dierbach,
Schaffer, Brach).
Das bedeutet in der Praxis, dass Demenzkranke im Vergleich zu ihrer
tatsächlichen Pflegebedürftigkeit nicht richtig eingestuft werden. Demzufolge
- ein offenes Geheimnis - ist es Einrichtungen mit Demenzkranken Bewohnern gar
nicht möglich, dem Krankheitsbild gerecht werdend und wirtschaftlich zugleich
zu arbeiten. Für den Alltag von Demenzkranken und Pflegekräften heißt das,
dass eine Einrichtung entweder unwirtschaftlich arbeiten muss - weil die
Pflegenden mehr Zeit bei den Alzheimerkranken verbringen, als diesen eigentlich
zusteht - oder dass Demenzkranke mit dem selben Zeitaufwand versorgt werden, wie
jeder andere Bewohner der Einrichtung auch - was den besonderen Bedürfnissen
der Erkrankten keinesfalls gerecht wird.
Im Rahmen der bestehenden Gesetze und Rechtsprechung ist es jedoch möglich,
gerade für Demenzkranke Bewohner im Rahmen einer Begutachtung zusätzlich zur Pflegestufe
eine sogenannte Pflegeklasse eingestuft zu bekommen. Eine Pflegeklasse
entspricht in ihren Kostensätzen denen der Pflegestufen, berücksichtigt aber
die Mehraufwendungen in der Pflege von Personen mit bestimmten Verhaltensweisen
bzw. Krankheitsbildern. Darauf weisen die Verfasser der Studie "Zeitbedarf
in der Pflege Demenzkranker" auch hin.
Eine Beispielrechnung kann dies verdeutlichen: Eine demenzkranke Person erhält
im Rahmen einer Begutachtung durch den MDK aufgrund ihrer körperlichen
Mobilität lediglich Pflegestufe 1 = 1023 € monatlich. Die Begutachtung des
Schwerstverwirrten ergibt jedoch zeitgleich Pflegeklasse 3 = 1432 € monatlich.
Die Differenz von 409 € monatlich muss der Heimbewohner entweder aus dem
eigenen Vermögen bestreiten (Selbstzahler) oder die Sozialhilfeträger müssen
einspringen.
All diese Umstände sind seit langem bekannt. Das Bundessozialgericht hat in
seinem Urteil (AZ B 3 P 12/99R) vom 10.02.2000 diese Fakten ausführlich
dargestellt und begründet.
Weshalb Heime bisher diese Möglichkeit nicht nutzen, ist hier nicht
abschließend zu klären. Nach vielen Gesprächen zu diesem Thema scheint es
jedoch so, als habe sich teilweise aus Unwissenheit, teilweise aus Furcht vor
einer zwecklosen Mehrarbeit eine gewisse Resignation ausgebreitet. Aussagen von
Pflegekräften und Heimleitern wie "Da weigert sich der MDK doch
sowieso.", oder "Die Pflegekassen werden wohl kaum was genehmigen, was
sie zusätzliches Geld kostet.", sind leider keine Seltenheit. Auch ist die
stetig schwebende Frage, wie soll der Mehraufwand in der Pflege Demenzkranker
denn dokumentiert werden, damit der MDK dies anerkennt, scheint ein
Hinderungsgrund für Einrichtungen zu sein, offensiv für ihr Recht auf
wirtschaftliches und klientelgerechtes Arbeiten zu streiten.
Richtig ist, dass die Pflegekassen hier keinen Grund haben, auf Kosten der
Erkrankten und der Pflegekräfte, "zu sparen". Nach vielen Gesprächen
mit Vertretern der Pflege- bzw. Krankenkassen habe ich jedoch den Eindruck
gewonnen, dass dies auch keinesfalls als primäres Interesse der Kassen
dargestellt werden darf. Hinzu kommt, dass - wie oben dargestellt - die
Pflegekassen durch eine Einstufung in eine Pflegeklasse ohnehin nicht belastet
werden.
Grundsätzlich ist es so, dass Heime selbst den Antrag auf Einstufung stellen
müssen - wie mir der MDK mitteilte, dürfe er nur einstufen, was er beauftragt
bekomme. Dies seien bisher stets nur Pflegestufen gewesen. Ein Heim im
südlichen Schleswig-Holstein ist da wohl die rühmliche Ausnahme. "Die
Verpflichtung der Begutachtung durch den MDK ergibt sich aus § 84 Absatz 2 Satz
3 des elften Sozialgesetzbuches.", so Birgit Schubert von der Techniker
Krankenkasse, die dies vorher durch eine Fachabteilung der Kasse prüfen lies.
Das Problem das viele Heime sehen, kann nun also nur noch sein, dass es
keinerlei Dokumentationsrichtlinien gibt, die bei der Forderung nach einer
Pflegeklasse herangezogen werden könnten. Wie also muß eine solche
Dokumentation gestaltet sein? Es gibt keine bundeseinheitlichen Richtlinien -
diese sollen in der "nächsten Zeit" erarbeitet werden, gemeinsam von
Vertretern des MDK, der Pflegekassen und der Sozialhilfeträger. Ein Sprecher
der Landes-AOK Schleswig-Holstein erklärte dazu, dass gerade die
Sozialhilfeträger aber "sehr, sehr zögerlich" bei diesem Thema
reagieren. Was Wunder - sie werden mit Sicherheit Hauptkostenträger der
Pflegeklassen. Zudem teilte der Mitarbeiter der Landes-AOK mit, dass eventuell
jetzt erstellte Dokumentationen für den Mehraufwand der Pflege möglicherweise
mit Einführung bundeseinheitlicher Richtlinien wieder "hinfällig"
sein könnten. Das stimmt. Bis dahin gilt jedoch die Auskunft der Techniker
Krankenkasse: "Vom Pflegeheim würde daher grundsätzlich eine
Pflegedokumentation, evtl. mit ergänzenden Angaben zur Vorlage bei der
Pflegekasse ausreichen.". Keine der für die Recherche angesprochenen
Parteien wagte jedoch eine Prognose, wie lange es noch bis zur Einigung auf
einheitliche Dokumentationsrichtlinien für Pflegeklassen dauern könnte.
Bis dahin fehlt also jeden Tag Geld für eine angemessene Dementenpflege. Jeden
Tag fehlt Geld für ausreichend Personal, für die besonderen Bedürfnisse
Demenzkranker. Heime sollten also nicht warten, bis "irgendwann"
Richtlinien für die Dokumentation vorliegen, sondern endlich verantwortliche
für ihre Mitarbeiter und Bewohner eine eigene Dokumentation entwickeln, die den
täglichen Mehraufwand in Minuten darstellt.
Dies kann für Pflegefachkräfte mit einem PC kein großes Problem sein, zumal
die Anlehnung an die Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory durchaus sinnvoll und
möglich ist. An den Führungskräften ist es dann, jeden Mitarbeiter davon zu
überzeugen, wie wichtig dieser Mehraufwand an Dokumentation ist. Für ihn ganz
persönlich - denn mehr Personal, und vielleicht sogar etwas mehr Lohn, sollten
hierzu schon ein Anreiz darstellen. Pflegekräfte möchten auch Demenzkranke
angemessen pflegen und betreuen können. Es nützt nichts, über unser
Gesundheitssystem zu lamentieren, über die Pflegekassen zu schimpfen und dem
MDK mangelndes Fachwissen in Sachen Demenz zu attestieren. Die tatsächlich
vorhandenen Möglichkeiten innerhalb des Systems müssen genutzt werden. Sonst
verschulden wir Pflegekräfte unsere unzureichende Arbeit mit Demenzkranken, und
unsere schlechten Arbeitsbedingungen ein gutes Stück mit.
Jochen Gust
Elisabethstr. 48 / 23701 Eutin
Jochen.Gust@AlzheimerForum.de
Erstveröffentlichung in "Der
Pflegebrief" Ausgabe 03/2003 S. 4 ff