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zivil - Zeitschrift fuer Frieden und Gewaltfreiheit

Zeitschrift für
Frieden und Gewaltfreiheit

Schockierende Entdeckungen

 

Ein Rechtsmediziner kämpft gegen Missstände in der Pflege


Von Michael Grau 

Manche nennen ihn "Quincy". Und wie der Polizeiarzt aus der gleichnamigen US-Fernsehserie fühlt sich Joachim Eidam manchmal, wenn er Leichen begutachtet: rund 25 am Tag, 500 im Monat, 6.000 im Jahr. Mit seinen Befunden sorgt der 48-jährige Rechtsmediziner aus Hannover derzeit für Aufsehen in der Fachwelt. Jeder Siebte der meist hochbetagten Toten zeigt Spuren eines "Dekubitus", einer Druckschädigung des Gewebes, die auf Versäumnisse in der Pflege schließen lassen.

"Diese Menschen müssen mordsmäßige Schmerzen gehabt haben", sagt Eidam. Dekubitus bildet sich durch langes Liegen auf derselben Stelle. Die Rötungen der Haut, Flecken oder offenen Wunden werden von Pflegern und sogar von Ärzten oft übersehen oder unzureichend versorgt. "Ein Skandal", findet Eidam. Man handele nach dem Motto "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Äußere ein Patient Schmerzen, werde er oft mit Medikamenten ruhig gestellt: "Dann liegt er noch viel länger auf derselben Stelle."

In vielen Totenscheinen findet Eidam jedoch nicht den leisesten Hinweis auf einen Dekubitus. Häufig scheuten sich Ärzte, einen Verstorbenen in Gegenwart der Angehörigen bei der Untersuchung auszuziehen oder noch einmal herumzudrehen. "Man muss sich ernsthaft fragen, ob einige Ärzte für eine Leichenschau überhaupt qualifiziert sind", so der Rechtsmediziner. "Manchmal frage ich mich, ob wir dieselbe Leiche gesehen haben."

Als vor drei Jahren ein Hamburger Professor die Öffentlichkeit erstmals auf das Thema Dekubitus aufmerksam machte, wollte Eidam es genau wissen. Systematisch begann er, die Fälle zu erfassen. Im Auftrag des Gesundheitsamtes nimmt er zur Feuerbestattung bestimmte Leichen, die laut Totenschein eines natürlichen Todes gestorben sind, ein zweites Mal in Augenschein – bevor mögliche Hinweise auf Straftaten, Selbstmorde oder Unfälle durch die Verbrennung vernichtet werden.

Von den 12.218 Toten, die Eidam von November 1999 bis Ende 2001 begutachtete, wiesen 14,4 Prozent einen Dekubitus auf, 0,9 Prozent sogar einen schweren. Die auffälligsten Befunde hat er auf Fotos dokumentiert. Ein Mausklick, und auf dem Computer erscheinen schockierende Bilder: Schlaffe Hautfetzen, die vom Körper fallen. Offene Wunden, bei denen man bis ins Innere der Knochen blicken kann. Abgestorbene Hautpartien, schwarz und trocken, die aussehen wie mumifiziert. Bräunlich-grüner Eiter, der sich bis in die Bauchhöhle durchgefressen hat. Tellergroße Geschwüre am Gesäß, die nach Eidams Schilderung ebenso schlimm riechen, wie sie aussehen.

Als Spezialist zur Identifizierung von Leichen hat Eidam schon viel gesehen – beim Zugunglück von Eschede ebenso wie in Bosnien oder im Kosovo. Doch der tagtägliche Anblick lässt ihn nicht in Ruhe. Über eine alte Frau, die unter Dekubitus im Endstadium litt, sagt er: "Sie ist bei lebendigem Leib verfault." Wenn er den Eindruck hat, dass die Druckschädigung den Tod verursacht haben kann, schaltet er die Staatsanwaltschaft ein. Das sind etwa 50 Fälle pro Jahr. "Wir leiten in jedem dieser Fälle ein Ermittlungsverfahren ein", sagt der hannoversche Staatsanwalt Thomas Klinge. Dabei werden Sachverständige mit einem Gutachten beauftragt. "In einigen Fällen ist es schon zu Geldbußen, zu Anklagen und Verurteilungen von Pflegern oder Pflegedienstleitern gekommen."

Durch vorbeugende Pflege lassen sich laut Eidam die meisten "Aufliegedefekte" vermeiden. "Wenn die Haut eine bleibende Rötung zeigt, ist es bereits zu spät", erläutert er. Die Druckschädigung schreitet in der Regel von innen nach außen fort - am ehesten an Stellen mit kräftigen Knochen und wenig Weichgewebe, vor allem über den Becken- und Hüftknochen. Durch den Liegedruck werden Venen abgeschnürt. Es kommt zum Blutstau, und die Zellen werden nicht mehr ausreichend versorgt. Schließlich kann sich die Stelle entzünden.

"Schon eine kleine Gewichtsverlagerung entlastet", so Eidam. Überhaupt erfordere die Vorbeugung nur wenig Aufwand: Mindestens alle zwei Stunden sollte die zu pflegende Person in eine andere Lage gebracht werden. Sie sollte viel trinken und gut ernährt werden. Gute Kissen und Matratzen tun ein Übriges, sagt Eidam, der bei der Bundeswehr selbst vier Jahre als Krankenpfleger gearbeitet hat: "Wir müssen nur anwenden, was wir gelernt haben."



 

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