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Alzheimer in meiner Familie

von Corinna Woyke

1. Verlauf der Krankheit

Wann meine Oma Angelika W. (*28.10.1914) genau erkrankte, kann ich schwer festlegen, ich war wohl selber noch zu jung, um es zu registrieren. Sie wohnte seit ich denken kann bei uns und half meinen Eltern bei der Kinderbetreuung, als sie arbeiten gingen, weshalb ich eigentlich schon immer eine enge Beziehung zu ihr hatte. Mir ist damals nicht aufgefallen, dass meine Oma schon kleinere Schwierigkeiten hatte. Bei Gesprächen mit meinen Eltern hab ich aber erfahren, dass sie schon 1988 bei unserem Einzug in das neue Haus (Sie war 74, ich 1 Jahr alt) nicht mehr in der Lage war, einen eigenen Haushalt zu führen, obwohl sie immer eine sehr selbstständige Person war, schloss sie doch selbst im hohen Alter von 50 Jahren die Meisterprüfung zur Schneiderin ab.

Meine Eltern besuchten sie 2 Jahre zuvor täglich, um ihr die schwierigeren Arbeiten wie Einkaufen, Bügeln, Putzen abzunehmen. War sie am Anfang noch im Stande uns Kinder zu betreuen und verpflegen, passierte es bald schon einmal, dass sie beim Kochen den heißen Topf auf eine Arbeitsplatte stellte oder andere Töpfe völlig vergaß. Sie war trotz dieser ersten Anzeichen, die aber noch als normale Altersschwäche gesehen wurden, eine sehr liebevolle Omi, konnte sie uns doch immer mit kleinen Spielchen oder lustigen Geschichten zum Lachen bringen. Auch wegen diesen Charakterzügen fiel es meinen Eltern recht leicht, uns bei ihr zu lassen, wenn sie anderen Aufgaben nachgehen mussten. Gerade auch, weil Omi ihnen oft in der Vergangenheit geholfen hatte, so wie sie es konnte, waren auch meine Eltern bereit ihr bei kleineren auftretenden Problemen freundlich zu helfen. Ein Fehler vielleicht, wie mein Vater heute meint: Hätten sie ihr nicht von Anfang an die schwierigeren Aufgaben abgenommen, wäre der körperliche und geistige Abbau vielleicht offensichtlicher gewesen. So kam es, dass meine Oma im Jahre 1990 bereits zunehmend auf Pflege und Hilfe von uns angewiesen war, ihre Aufgaben sich nur noch auf Fernsehen, Spazierengehen und Kartoffeln schälen beschränkten.

Eines Tages fiel meiner Mutter dann auf, dass Omi diese Kartoffeln im Wäscheschrank verstaut hatte. Ab dieser Zeit, wo ähnliche Aktionen immer wieder geschahen, bekamen meine Eltern einen ersten leichten Verdacht, dass sie doch geistig zu schnell abbaue. Entgegen diesen Befürchtungen bewies Omi auch noch 1993, dass sie körperlich topfit sei, sie konnte noch Gymnastikübungen mit Spaß vorführen, sang fröhlich zu den Weihnachtsliedern, die ich auf dem Klavier gespielt hatte. Auch das Treppensteigen bewältigte sie ohne fremde Hilfe, für kleinere Plaudereien war sie immer zu haben. Da diese positiven Eindrücke häufiger waren als die negativen oder besorgniserregenden, wurden letztere nur als harmlose Begleiterscheinungen des Alterns heruntergespielt. Einige besonders auffällige Folgen des Alzheimers sind uns in Erinnerung geblieben. So verwunderte es meine Eltern, als Omi bei einer Familienfeier einer Bekannten 1995 auf Anfrage hin nicht ihr eigenes Alter angeben konnte. Stattdessen sagte sie, dass meine Mutter das wisse. Die Anwesenden, die das kleine Malheur mitverfolgt hatten, sahen es als lustiges Missgeschick, das die Stimmung auflockert, mehr nicht. Meine Eltern nahmen es auch nicht sehr ernst, sondern vielmehr als eine Art Freundschaftsdienst, das Alter zu sagen anstatt hartnäckig zu bleiben und sie zu bitten, die Frage selbst zu beantworten.

Ein Jahr später erregte eine andere Situation erneut Aufsehen: Bei einer Kommunionsfeier redete Omi mit einem fremden Kellner über alte Zeiten, nur dass dieser sie nicht miterlebt hatte. Langsam erhärtete sich der Verdacht, dass Omi an Alzheimer erkrankt sei. Meine Familie informierte sich über das Thema, wir ließen eine besondere ärztliche Untersuchung durchführen, sodass wir 1997 Gewissheit hatten: Omi hat Alzheimer. Ich denke, dass sie selbst sich nicht mehr damit auseinandersetzte, da ich mich an keine Reaktion ihrerseits erinnern kann.

Meine Eltern ließen sich von einem Freund beraten und suchten Ämter auf, um sich Pflegegeld bescheinigen zu lassen. Omi konnte mittlerweile nicht mehr alleine sein, immer war jemand bei ihr in der Nähe, damit ihr nichts zustößt. Es wurden regelrechte Aufpassordnungen aufgestellt, Michael, mein großer Bruder, und ich passten abwechselnd nachmittags nach der Schule, meine Eltern meistens ab abends auf sie auf. Es wurde immer schwieriger mit ihr umzugehen, sie wurde teilweise grundlos bockig und stur, ließ sich dann auch nicht problemlos die Treppen herunter helfen (eine Person ging als Absicherung langsam vor ihr her). Schwierigkeiten gab es aber auch nachts: Omi hatte das Zeitgefühl nach einer Zeit verloren und besuchte Michael und mich in der Nacht am Anfang selten, dann später immer öfter. Wir versuchten sie freundlich und beruhigend wieder ins Bett zu bringen, doch meistens klappte es nicht für lange Zeit, sie kam schnell wieder in unsere Zimmer. In einer Nacht wollte sie wohl schauen, ob jemand unten ist, und ging die Treppen ohne Licht und Begleitung, worauf sie mehrere Stufen stürzte. Nur durch das Bellen von unserem Hund wurden wir wach und konnten uns um sie kümmern. Omi wurde von einem Arzt untersucht und hatte glücklicherweise nur einen Schock und einige äußere Verletzungen wie Prellungen und Blutergüsse. Mein Vater baute am nächsten Tag eine Absperrung auf unserer Etage, die wir je nach Bedarf auf- oder abnehmen konnten. Auch das Essen musste ihr zu diesem Zeitpunkt schon speziell zusammengestellt werden: Toastbrot mit Belag (in extra kleinen Stücken, damit sie versuchen kann selbst zu essen, auch wenn ihr das Brot teilweise herunter fiel) zum Frühstück und Abendessen, mittags meistens eine Suppe oder weiche Lebensmittel wie Kartoffelpüree mit Fischstäbchen. Den Pudding zwischendurch konnte sie nicht mehr alleine essen, hier mussten wir ihr helfen, obwohl wir uns eher zurückhalten wollten. Um das Gedächtnis zu trainieren, begannen mein Bruder und ich, uns intensiver mit ihr zu beschäftigen: Wir spielten mit speziellen Memoriekarten, die jeweils wichtige Erlebnisse unserer Familie auf Fotos abbildeten, spielten beim Musizieren nur noch die wenigen Lieder, zu denen sie teilweise den Text kannte und mitsingen konnte. So hörte man aus unserem Haus das ganze Jahr über Weihnachtslieder wie „Oh Tannenbaum“. Wichtig war für uns, Omis Abbau unterbewusst möglichst zu verlangsamen.

Doch schon bald, ich schätze im Jahr 2000, saß sie nur noch neben dem Klavier und nickte ab und zu, wenn ihr das Lied irgendwie bekannt vorkam. Die Sprachfähigkeit beschränkte sich auf nur wenige deutsche und polnische Wörter, meist völlig ohne Zusammenhang. Auch das Erkennen unserer Familienmitglieder hörte irgendwann auf (zuletzt bei meinem Vater, schließlich war er ihr Sohn), was vor allem deshalb schwierig war, weil sie meine Mutter als „böse Frau“ bezeichnete und sogar teilweise mit geballten Fäusten auf sie zuging, was nun wirklich nicht zu ihren ehemals friedlichen Charakterszügen passte. Wenn ich sie versuchte zu beruhigen, verkrampfte sie sich so, dass sie sich gar nicht mehr bewegen konnte, hielt sich an dem, was gerade da war, fest, sei es meine Schulter, sei es auch nur ein Stuhl.

Als meine Eltern merkten, wie wenig wir meiner Omi helfen konnten, und auf das Anraten des Hausarztes hin, sahen wir uns 2001 nach einem guten Pflegeheim um und entschieden uns für das St. Josef-Heim. Da hatte sie zwar geübtes Pflegepersonal um sich, wurde rund-um-die-Uhr betreut, doch wir taten uns ziemlich schwer mit dem Abschied. Wir wussten, dass der davor so intensive Kontakt schon allein durch diesen Wohnungswechsel stark leiden würde, wir sie nur noch ab und zu in der Woche sehen würden. Außerdem hatten wir Angst, dass Omi im Heim nur noch mit Medikamenten behandelt werden würde, was zwar den Verlauf der Krankheit zeitweise aufhält, bzw. ihr einige Schmerzen erspart, aber ihr dennoch nicht so sehr hilft wie unsere Beschäftigung mit ihr vorher. Und wir behielten Recht: Bei meinen Besuchen im Heim war Omi überhaupt nicht mehr ansprechbar, sie saß nur still auf einem Stuhl, aß kaum etwas, bewegte sich nicht, nur ab und zu stöhnte sie leise. Michael und ich besuchten sie immer seltener. Es war einfach zu traurig sie da so still vor sich hinvegetieren zu sehen.

Eines Morgens weckten mich dann meine Eltern und sagten mir, dass Omi verstorben sei. Friedlich und so gut wie schmerzlos ist sie eingeschlafen. Das war zwar schon ein Schock, aber eigentlich wussten wir alle, dass es bald so weit sein würde, jeder Tag sie und auch uns immer mehr quälte. Es war ein schöner Abschied auf dem Friedhof, an dem sich jeder an die liebevolle, freundliche Omi, die im Mittelpunkt der Familie stand, von einst erinnerte.

Omi Angelika starb am 12. Januar 2002 an Herzversagen.

2. Auswirkungen der Krankheit auf die Familie

Eine Krankheit hat im Regefall nicht für die betroffene Person selbst Folgen, auch das nähere Umfeld muss sich mit der neuen Situation vertraut machen und sich gegebenenfalls umstellen. So war es auch bei uns: Vor allem unsere kleine 4-köpfige Familie, aber auch meine Tante, Tochter meiner Oma, als auch deren Ehemann und die andere Omi mussten sich der Krankheit stellen. Es wurde von Anfang an eine möglichst „gerechte“ und den Möglichkeiten angepasste Zeitaufteilung beschlossen: In den Wochen behielten wir Omi in unserem Haus, an Wochenende holte meine Tante sie ab. Eine regelmäßige Kommunikation über den jeweils aktuellen Gesundheitsstand meiner Oma war unerlässlich, der Kontakt zwischen den beiden Haushalten wurde intensiver, die Situation „schweißte“ uns zusammen.

Zu dieser groben Aufteilung mussten auch die Tage oder Tageszeiten möglichst gleichmäßig unter uns aufgeteilt werden, damit niemand mehr als erforderlich unter der Krankheit leiden musste. Für eine möglichst reibungslose rund-um-die-Uhr Betreuung abgesehen von den Vormittagen, wo jeder seiner Arbeit bzw. der Schule nachging, sollte ich direkt nach dem Heimkommen auf sie aufpassen, mein Bruder mich nach seinen Hausaufgaben ablösen, dann meine Mutter nach dem Mittagessen um 16 Uhr und schließlich mein Vater meist in den Abendstunden. Natürlich wurde auch an einigen Tagen improvisiert, wenn der Regeablauf nicht eingehalten werden konnte. Unter diesen zeitlichen Belastung litten vor allem bei Michael und mir die sozialen Kontakte, konnten wir an mittäglichen Treffen mit Freunden kaum teilnehmen, bei meinen Eltern wurde die Freizeit zum Entspannen z.B. nach der Arbeit stark eingeschränkt. Finanziell wurden wir von den Ämtern mit Pflegegeld auf Stufe 3 unterstützt.

Diese äußeren Einschränkungen waren relativ leicht zu regeln, schwieriger waren die emotionalen Probleme. So litt vor allem meine Mutter unter den Beleidigungen und dem teilweise aggressivem Verhalten meiner Omi, wurde sie doch als „böse, fremde Frau“ beschrieben. Das auch sonst schon schwierige Führen von ihr wurde durch zusätzliche, absichtliche Krämpfe, die nur im Umgang mit meiner Mutter auftraten, weiter erschwert. Auch die psychische Belastung von der Schwiegermutter so stark beschimpft und verachtend angeschaut zu werden, halte ich für enorm. Ebenso schlimm muss es für meinen Vater gewesen sein, sah er doch seine Mutter einen solchen körperlichen und auch geistigen Absturz fallen, ohne mit seiner Mühe etwas Größeres bewirken zu können. So ähnlich muss auch meine Tante gefühlt haben, ich habe nie wirklich mit ihr darüber geredet. Omi so hilflos und teilweise auch teilnahmslos zu sehen, war am Anfang ein Problem für uns alle, aber das konnte man recht schnell verkraften: Das für mich schlimmste Stadium in dem Krankheitsverlauf war der, als Omi mich nicht mehr erkannt hat. Mir kam es so vor, als würde sie mein Gesicht zwar schon als ein ihr Bekanntes erkennen, aber weder eine Zuordnung in die Familie noch das Erinnerungen an Erlebnisse aus der gemeinsamen Zeit schaffen.

Die Krankheit hat unsere Familie zwar auf eine harte Probe gestellt, ich kann aber heute sagen, dass sie uns wenigstens in diesen Tagen sehr stark zusammengebracht hat: Familientreffen waren mehr als nur das an Feste gebundene Zusammensitzen, ich zumindest habe mich dort viel wohler und verstandener als üblich gefühlt. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist leider auch mit Omis Tod verloren gegangen.

3. Fazit: Das Tabuthema gesellschaftsfähig machen

Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit der Krankheit auseinander gesetzt. Dabei habe ich gezeigt, welchen typischen Verlauf sie nimmt und auch einen Spezifischen, damit das Thema nicht zu theoretisch wird. Ich habe versucht, den unaufhaltsamen geistigen Abbau einer erkrankten Person einfach darzustellen, wobei es mir schwer fiel aus den gesammelten Quellen nur das Nötigste herauszufiltern. Eine andere Schwierigkeit lag darin, die Gefühle eines Erkrankten angemessen zu beschreiben, obwohl ich keine Quellen zu diesem Thema gefunden habe und mich so in die Krankheit hineindenken musste. Ebenfalls offen bleibt die Frage nach den aktuellen Medikamenten und Therapien, die heut zu Tage zur Behandlung von Alzheimer angewendet werden: Eine Ausführung hätte den Rahmen der Facharbeit überschritten. Insgesamt kann ich sagen, dass ich die Beschäftigung mit dem Thema als sehr interessant empfand, da ich auch nicht so genau über die Ursachen der Krankheit informiert war. Die notwendigen Besprechungen mit der Familie halfen uns allen gegenseitig etwas mehr mit der Vergangenheit abzuschließen, hatten auch wir nach dem Tod nicht bewusst über die einzelnen Stationen des Alzheimers gesprochen und auch selten über unsere Gefühle in dem Zusammenhang geredet. Die Informationen zum Thema im Internet als auch in Form von Büchern halte ich für empfehlenswert, es gibt sie in allgemeiner Fassung und auch als Ratgeber für Betroffene. Vielleicht hätten auch wir durch die Beschäftigung mit solchen Medien einige Fehler vermeiden können. Die größte Schwierigkeit bei der Verfassung der Facharbeit lag in der Formulierung im persönlichen Teil. Ich wollte den Sachverhalt möglichst detailliert und realitätsnah darstellen, aber nicht zu viele intime und vielleicht einem Familienmitglied unangenehme Erinnerungen einbringen. Ich hoffe, ich habe die Intimsphäre eingehalten und dennoch dazu beigetragen, dass die Krankheit Alzheimer weder in unserer Familie noch außerhalb als ein Tabuthema abgehandelt wird.

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