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Mein Vater


Mein Name ist Jochen Schulze, ich bin 38 Jahre alt, verheiratet und habe zwei Kinder (Sina 9 Jahre, Jonas 6 Jahre).
Ich bin Dipl.-Ing. (Bauingenieur) und selbständig als beratender Ingenieur im Bereich "Projektmanagement und Bauleitung" tätig. Mein in Partnerschaft geführtes Ingenieurbüro besteht aus insgesamt 6 Mitarbeitern.
Meine Frau Petra organisiert unseren Haushalt und betreut unsere beiden Kinder.

Betroffen ist mein Vater, 66 Jahre alt, der seit etwa 6 - 8 Jahren, an Alzheimer erkrankt ist.

Er ist (1994 pensionierter) Studiendirektor, der am hiesigen Gymnasium Mathematik und Sport unterrichtet hat.
Meine Mutter, 58 Jahre, ist Realschullehrerin (Mathematik und Englisch) mit halber Stelle.
Gemeinsam bewohnen sie ein Einfamilienhaus.

Mein Vater, dem die Diagnose "Alzheimer" mit Sicherheit zu irgendeinem Zeitpunkt mitgeteilt wurde, hat nie mit uns darüber gesprochen. Wir haben die Diagnose erst sehr viel später direkt von seinem Hausarzt, der ein guter Freund meiner Eltern ist, erfahren. Unsere Versuche, mit ihm darüber zu reden, hat er strikt ignoriert, blockiert und vehement und teilweise auch aggressiv abgelehnt. Seitdem ist dieses Thema ihm gegenüber absolut tabu.
Alzheimer bezieht er nie auf sich selbst, er redet allenfalls von seinen Gedächtnisproblemen.

1991

Auf dem Weg in den Sommerurlaub haben meine Eltern einen recht schweren Autounfall in Norwegen, den sie jedoch mit viel Glück und geringen Verletzungen relativ unbeschadet überstehen, meine Mutter ist am Steuer eingeschlafen. (Dies wirft er ihr heute als Ursache und Verschulden seiner "Situation" vor).
Schwere Kopfprellungen mit Gehirnerschütterung bei beiden, mehrere Kiefer- und Jochbeinanbrüche bei meinem Vater, die jedoch alle ohne Operationen verheilen können.

1991 - 1993

Mein Vater stellt noch in 1991 bei sich (zunehmende) "Wortfindungsprobleme" fest, ohne daß uns dies bislang aufgefallen ist.
Er vermutet einen Zusammenhang mit dem Autounfall und konsultiert seinen Hausarzt.
Es folgen viele verschiedene Untersuchungen, von denen mein Vater immer nur spärlich oder gar nicht berichtet.
Nach Auskunft meines Vaters stellen der Hausarzt und ein anderer Arzt schließlich fest "Da ist etwas, wir wissen aber nicht genau, was es ist."

Ende 1993

Mein Vater, der seit langer Zeit zunehmende Beschwerden in der Hüfte hat, lässt sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen, ein zeitlich umfangreicher Eingriff.
Der Hausarzt und Freund meines Vaters lässt hinsichtlich der "Wortfindungsprobleme" nicht locker und veranlasst eine CT (oder MRT). Auch hier erfahren wir alle (einschl. meiner Mutter) nichts über den Befund. Der Wunsch meiner Mutter, bei dem Abschlussgespräch mit dem Arzt dabeisein zu dürfen, wird von meinem Vater vehement bis aggressiv abgelehnt.
-- Heute denken wir, dass er bereits ganz klar weiss, was mit ihm los ist und er dies (vielleicht auch zum "Schutz" seiner Familie) verheimlichen wollte --

Frühjahr1994

Wir erfahren einen "Zufalls-Nebenbefund" der CT / MRT : Geschwulst auf der Hirnanhangdrüse / Hypophyse.
Die operative Entfernung erfolgt kurz darauf : Gewebe ist gutartig. Durch die frühzeitige Erkennung bleibt die Beeinträchtigung der Hypophyse gering, der direkt danebenliegende Sehnerv ist überhaupt noch nicht betroffen. Nachfolgend werden zur Regulierung des Hormonhaushaltes 1/4-jährliche Depotspritzen dauerhaft erforderlich.
Mein Vater beschliesst, sich so schnell wie möglich pensionieren zu lassen und scheidet im Sommer 1994 aus dem Schuldienst aus.
Als Begründung meiner Mutter gegenüber : ich will nicht erleben, dass ich wie ein Depp vor der Schulklasse stehe und nach Worten suchen muss.
Der Zusammenhang zu seinen "Wortfindungsproblemen" war mir damals überhaupt nicht bewusst.

1995

Mein Vater segelt mit seinem Freund (und Miteigner des gemeinsamen 12m - Schiffes) von Mai bis Oktober mit wechselnden Mitseglern aus der Ostsee bis um das Nordkap nach Kirkenes und zurück. Eine harte und anstrengende Tour, bei der sich schon "Eigenarten" zeigen, die die Partnerschaft der beiden teilweise auf eine harte Probe stellen.
Ich besuche meinen Vater zusammen mit meiner Mutter für 2 Wochen in Nord-Norwegen, um mit ihm gemeinsam dort oben zu segeln. Meine Mutter spricht eines morgens zum ersten Mal (und auch zum letzten mal in meinem beisein) unter Tränen den Verdacht "Alzheimer" hinsichtlich der "Wortfindungsprobleme" meinem Vater gegenüber aus, da sie hierüber kurz zuvor in einem Buch gelesen hatte und Parallelen in den Symptomen wiederfand.
Die Reaktion : verlegenes Grinsen meines Vaters (dieser Blick ist mir heute noch total gegenwärtig und ich interpretiere ihn heute als "wissend") und die Antwort:
Naja Jochen, Du kennst ja Ingrid, die macht sich ja schon immer bei den kleinsten Kleinigkeiten total verrückt.
Das wars, danach habe ich nie wieder mit ihm über Alzheimer gesprochen.

1996

Ich kann mich nicht entsinnen, ob sich für mich augenfällige Veränderungen gezeigt haben. Ich glaube, daß ich mich auch weigerte, über dieses Thema angesichts der Leistungsfähigkeit meines Vaters nachzudenken.

1997

Im Frühjahr meldet sich meine Mutter und teilt uns mit, dass auf vehementes Nachfragen beim Hausarzt (und Freund meiner Eltern) ihr Verdacht auf Alzheimer bestätigt wurde. Da sie noch nicht in der Lage ist, darüber zu reden bittet sie uns, einen Termin beim Arzt zu machen.
Dort wird uns der vorbeschriebene Werdegang mit entsprechenden Hintergründen erläutert und eine Demenz mit Verdacht auf Alzheimer bestätigt. Sog. IQ-Tests haben von 1993 bis 1997 einen Verfall von einem Wert über 150 auf nur noch unter 90 gezeigt. Gerade diese (ehemals) überdurchschnittliche Intelligenz hat es möglich gemacht, dass mein Vater die Krankheit, die ihren Ursprung sicherlich schon vor den "Wortfindungsproblemen" aus 1991 hatte, so lange "geheim" halten und viele Ausfälle kompensieren konnte. Zu diesem Zeitpunkt schreibt mein Vater bereits z.B. den Namen seines langjährigen guten Freundes auf einen kleinen Zettel, den er bei Bedarf aus der Tache zieht, um seine Gedächtnisschwäche zu kaschieren......

Meine Familie und ich beschließen, in die Nähe meiner Eltern zu ziehen um ihnen nach unseren Möglichkeiten helfen zu können und eine nahegelegene "Anlaufstelle" für meine Mutter zu bieten, wenn die Nerven blank liegen und Gedankenaustausch gefragt ist. Der Umzug erfolgt noch im Herbst 1997, so dass wir nun in unmittelbarer Nachbarschaft (ca. 300 m) zu meinen Eltern leben.

Der Hausarzt rät Mitte 1997 davon ab, das einzige bis dahin existierende Medikament zu verabreichen, da es unsägliche Nebenwirkungen mit sich bringt (ich habe den Namen leider vergessen, aber das Medikament wurde meines Erachtens auch bereits in 1997 wieder vom Markt genommen).
Seit 1998 erhält mein Vater Aricept, welches wir auch nach der Markteinführung von Exelon nicht mehr gewechselt haben.

Nachdem wir die Diagnose kennen, erscheinen viele Verhaltensweisen und Reaktionen in einem ganz anderen Licht und werden verständlich bzw. erklärbar.
Ein Abbau der Leistungsfähigkeit wird erkennbar.
Das (vormals intensiv vorhandene) Interesse am aktiven Tennis lässt nach, zum Ende des Jahres spielt er bereits nicht mehr. Als Begründung (unserer Ansicht nach eine Ausrede, da er an anderer Stelle überhaupt keine Beeinträchtigungen zeigt) schiebt er Probleme mit der operierten Hüfte vor. Wir vermuten eher Schwierigkeiten beim Punktezählen etc.

In 1997 und 1998 segelt er noch, wenn auch mit nachlassender Intensität.
Besonderen Wert legt er auf die Tatsache, dass er z.T. Wochenendtörns ALLEIN unternimmt.
Er reicht nach wie vor seine Berichte zum Fahrtenwettbewerb beim Segelclub ein, die er in wochenlanger Arbeit erstellt. Auch wenn er diese z.T. mit falschen Bildern versieht (die Reise durch großen und kleinen Belt in dänischen Gewässern versieht er mit Bildern aus Norwegen) "reicht es" immer noch für Preise bei diesem Wettbewerb, da er trotz allem noch mehr unternimmt als die meisten seiner Clubkollegen. (Die Jury ist von mir über seine Krankheit informiert und stellt keine peinlichen Fragen nach den Bildern, sondern urteilt allein nach gesegelter Distanz, also echter Leistung!)

1998

Meine Mutter besucht schon seit längerem den Gesprächskreis der Alzheimer-Angehörigen-Gruppe in der hiesigen Familienbildungsstätte, der von der Leiterin eines Pflegeheimes in der Nähe "moderiert" wird.
Sie berichtet, daß diese Gespräche ihr sehr viel Kraft und Unterstützung geben und ich beschließe, mein "Verdrängen der Tatsache dieser Krankheit", welches mir ein permanent latentes schlechtes Gewissen verschafft, endlich abzulegen und mich "offensiv" mit der Krankheit meines Vaters auseinanderzusetzen.
Den Anfang unternehme ich, indem ich diese 14-tägig stattfindenden Gespräche ebenfalls besuche. Die Gruppe ist (noch) sehr klein, zwischen 2 und 4 Angehörige.

Die Berichte der anderen, deren kranke Angehörige (allesamt älter als mein Vater) sich in den unterschiedlichsten Stadien/Verläufen dieser Krankheit befinden, berühren mich zutiefst und schockieren mich gleichzeitig in der unausweichlichen Erkenntnis dessen, was wir alle zwangsläufig noch alles werden ertragen müssen.
Es bleibt und überwiegt jedoch die Erfahrung, daß das Reden über Sorgen und Ängste befreien kann und die Schilderungen dessen, was andere erleben, eine hilfreiche Vorbereitung auf eine unausweichliche Zukunft ist, deren Härte man in den Gesichtern der Angehörigen andeutungsweise zu erahnen vermag.

Im Sommer segeln wir (meine Eltern, meine Kinder und ich) eine Woche gemeinsam.
Hier zeigt sich, daß mein Vater die Bedienung des GPS zur Navigation schon nicht mehr beherrscht, aber auf Grund seiner 35-jährigen Segelerfahrung in diesem Revier über eine beeindruckende Detailkenntnis hinsichtlich Wassertiefen, Untiefen, Küstenverlauf, Häfen etc. verfügt, bei der er ohne Seekarten auskommt. (Ich kann seine Angaben, nach Blick in die Seekarten, alle bestätigen).
Er war schon immer ein umsichtiger und vorsichtiger Segler, ist inzwischen aber extrem und geradezu "über" -vorsichtig geworden.
Manöver, bei denen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, bereiten ihm deutliche Probleme.

Mein Vater will eine ihm gehörende Wohnung verkaufen.
In einem Gespräch hierüber ist zu erkennen, daß er mit einigen diesbezüglichen Zusammenhängen starke Probleme hat und ich biete an, dies für ihn zu übernehmen.
Er, der immer versucht hat, ohne die Hilfe anderer auszukommen und über ein messerscharfes mathematisches Urteilsvermögen verfügte, überlässt mir die Abwicklung dieses Verkaufes und erteilt mir hierzu sogar Vollmacht über sein Konto --- deutlicher konnte sich der Abbau seiner Leistungsfähigkeit für mich nicht dokumentieren !!!

Meine Mutter berichtet, daß sie gemeinsam mit meinem Vater "zufällig" eine Fernsehsendung zum Thema Alzheimer angesehen hat und versuchte, mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen.
Er äußerte hierzu nur sein größtes Bedauern für die betroffenen Patienten und mit dem Satz: "Was für eine schreckliche Krankheit, man kann nur froh sein, wenn man davon verschont bleibt" war sein Interesse daran erloschen.
Er bezog nichts, aber auch gar nichts davon auf sich selbst.
Nach wie vor Selbstschutz, oder schon mangelnde Fähigkeit, Zusammenhänge zu knüpfen ?

1999

Mein Vater segelt kaum noch und kümmert sich fast überhaupt nicht mehr um das Schiff. Hat er es vergessen oder hat er seine eigenen Unzulänglichkeiten erkannt und vermeidet die zwangsläufigen Mißerfolge ??
Die Tatsache, daß die Schiffe im Oktober aus dem Wasser genommen wurden und ins Winterlager gegangen sind, hat er überhaupt nicht registriert.

Inzwischen erkennt er langjährige Freunde z.T. nicht mehr, an Namen kann er sich ohnehin nicht oder nur noch schwer erinnern. Unterhaltungen mit ihm sind äußerst problematisch, man erahnt mehr, worauf er hinaus will, als daß er es mit Worten verdeutlichen kann.

Die Dinge des täglichen Lebens kann er überwiegend noch leisten, auch wenn einige (z.B. Körperhygiene) deutlich nachlassen.
Die Arbeitszeit meiner halbtags berufstätigen Mutter kann er allein verbringen, er fährt mit dem Rad noch in die Stadt zu seiner Bank.
Sorge um den Verbleib seines Geldes (Unabhängigkeit) und der Wille ein Auto zu kaufen (Freiheit) sind mittlerweile nahezu die einzigen Triebfedern seines Handelns.

Nunmehr seit Mitte 1998 will er ein eigenes Auto kaufen, "damit er auch mal raus komme".
Wir wollen dies unbedingt verhindern, da er nicht mehr fahrtüchtig ist, was sich in verschiedenen Situationen auch deutlich gezeigt hat.
Es war ihm nicht auszureden, dieses Thema wurde nach und nach zu einem Reizthema (er explodiert von jetzt auf gleich) und ist daher inzwischen absolut tabu.
Es ist mit ihm definitiv nicht darüber zureden.

Also haben wir nach anderen Möglichkeiten gesucht, einen Kauf möglichst schonend zu verhindern, mindestens jedoch zu verzögern.
Als erste Maßnahme habe ich das entsprechende Sparguthaben auf ein neues Konto (unter meinem Namen) gelegt und ihm erklärt, daß ich sein Geld, "wie mit ihm vereinbart", angelegt habe und es wegen der dreimonatigen Kündigungsfrist nicht sofort verfügbar ist. Dies hat etwa ein Jahr funktioniert, er hat bei seinen gelegentlichen Nachfragen bei mir zum Stand der Kündigungsfrist die ständigen "neuen" Termine, die ich ihm nannte akzeptiert und die Verzögerungen nicht bemerkt.

Dann jedoch wurden seine Nachfragen intensiver und er begann, auch bei der Bank nachzufragen.
In schlechten Phasen fährt er jeden Tag zur Bank um sich erklären zu lassen, was mit seinem Geld ist, auf welchen Konten wieviel ist, was mit Kündigungsfristen ist etc., vergißt dies dann aber wieder .... usw.

Die Leute in der Bank, die ich über seine Krankheit aufgeklärt habe, sind rührend bemüht, ihm immer wieder alles zu erklären und ihn zu beruhigen und rufen auch schon mal bei meiner Mutter an um mitzuteilen, wenn er sich in der Bank wieder aufgeregt hat.
Sofern es nicht gelingt ihn zu beruhigen, verfällt er in Depressionen und reagiert meiner Mutter gegenüber mit großen verbalen Aggressionen, bis hin zur verriegelten Haustür und damit Aussperren meiner Mutter.

Die Sorge um sein Geld ist für ihn ein Wahnsinns-Stress.

Als diese Situation im August 1999 mal wieder bis zur Unerträglichkeit für meine Mutter eskalierte, hat sie ihm die Sparbücher an die Hand gegeben, was innerhalb kürzester Zeit für Entspannung sorgte.

Leider sollte diese Entspannung nur kurz sein, da er sich, wie ich es für den Fall, daß er über sein Geld meint verfügen zu können vorhergesagt hatte, sofort bei VW ein Auto bestellt hat. Zum Glück einen nicht sofort lieferbaren Neuwagen, der Anfang November zur Verfügung stehen sollte.
Der Geschäftsführer des Autohauses, ein Bekannter von mir und ein ehemaliger Schüler meines Vaters der sich schon wunderte, daß mein Vater ihn nicht wiedererkannt hatte, hat auf Bitte meiner Mutter (ohne Wissen meines Vaters) den Vertrag storniert. Ich konnte meinen Bekannten bislang dazu bewegen, die Nachfragen meines Vaters, wann denn nun das Auto kommt, mit "Lieferproblemen etc." zu beantworten, um das Problem des stornierten Vertrages weiter hinauszuzögern.

Oktober 1999

Vorgestern (28.10.99) war mein Vater wieder bei mir da man ihm bei der Bank mitgeteilt hatte, daß für die Auszahlung seines Geldes meine Unterschrift erforderlich ist. Den Zusammenhang begriffen hat er jedoch nicht.
Ich konnte ihn wiederum davon überzeugen, daß das "Festgeld", welches ich auf seine Bitte vor zwei Wochen gekündigt hatte (gelogen), erst im Januar 2000 ausgezahlt wird.
Er hat aber vehement verlangt, daß ich die entsprechende Unterschrift zur Auszahlung des Geldes sofort leiste, damit er "die Sache" nun endlich abgeschlossen hat.
Vertrösten konnte ich ihn nur dadurch, daß ich ihm mitteilte, daß für diese Unterschrift ein Formular der Bank benötigt wird, was ich aber demnächst bei Gelegenheit besorgen wolle.
Daraufhin ist er zufrieden und in guter Stimmung nach Hause gegangen.
Ich weiss nicht, wie lange diese Ausrede jetzt vorhält, vermutlich aber nicht sehr lange.

Uns gehen langsam die Ideen aus, wie wir das Autofahren "auf (verhältnismässig) sanftem Wege" verhindern können. Eine Anzeige mit Überprüfung der Tauglichkeit, die zwangsläufig den Führerscheinentzug zur Folge haben würde, kommt (noch) nicht in Frage, da dies zweifellos zu einer Katastrophe mit unerträglichem Klima im Hause meiner Eltern führen würde.
Wir spielen auf Zeit.
Als letzten Anker wollen wir versuchen ihn zu überzeugen, daß nach solanger Fahrabstinenz (er selbst meint, daß er seit etwa 2-3 Jahren nicht mehr gefahren ist, obwohl das letzte Mal erst einige Monate her ist) "Auffrischungsstunden" bei einer Fahrschule erforderlich sind, in der Hoffnung, daß er Defizite erkennt und von selbst Abstand nimmt.
Als meine Mutter dies ansprach, fand er, daß es eine gute Idee sei.
Wir hegen die Hoffnung, daß wir mit (reichlich) Fahrstunden wieder etwas Luft bekommen und keine schwerwiegenden Maßnahmen ergreifen müssen.

Der Hausarzt regt an darüber nachzudenken, das Medikament (Aricept), welches mein Vater schon über einen recht langen Zeitraum erhält, langsam auszuschleichen.
Zweck soll sein, das ständige "Aufbäumen" und "Kämpfen" meines Vaters gegen die Krankheit abzubauen, damit ihm dieser irrsinnige Streß genommen wird. Er soll mehr Ruhe in sich finden, diese ständigen Existenzängste mit großen Sorgen um Geld und Unabhängigkeit, die Schlaflosigkeit, Depressionen, Aggressionen und Unruhen verursachen, sollen gelindert werden.
Gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, daß dies mit einer, unter Umständen auch rapiden, Verschlechterung der Merkfähigkeit und Orientierung einhergehen wird.

Was für eine Entscheidung !!

Nach langen Überlegungen entscheidet meine Mutter, das Aricept langsam abzusetzen. Wir unterstützen diese Entscheidung, da die Situation inzwischen nicht nur für meinen Vater, sondern vor allem auch für meine Mutter unerträglich geworden ist.

November 1999

Das Aricept ist fast komplett abgesetzt.
Seit zwei Wochen hat mein Vater die Themen Geld und Auto, sonst fast einziger Inhalt seines Tuns, nicht mehr erwähnt, er war auch nicht mehr bei seiner Bank.
Er ist überwiegend relativ guter Stimmung.

Allerdings haben Orientierung und vor allem Kurzzeitgedächtnis in den vergangenen drei Wochen deutlich nachgelassen. Hieran leidet meine Mutter sehr -- "schuld zu sein" an dem Nachlassen seiner Fähigkeiten.

Die Gesamtsituation scheint jedoch deutlich entspannter.

"Neue" Probleme gibt es jedoch zwischen uns Angehörigen.

Seit langen Wochen, eigentlich schon Monaten, beschäftigt meine Frau und mich die Art und Weise, in der meine Mutter in der Bewältigung der Probleme meines kranken Vaters (und damit natürlich auch ihrer Sorgen, Ängste, Nöte ...) mit uns umgeht.

Es hat sich zu einer quälenden Einseitigkeit entwickelt, bei der wir nur noch "Mülleimer" sind, dessen Eigenleben zweitrangig zu sein scheint.
Meine Mutter nutzt unser Angebot, jederzeit vorbeikommen oder anrufen zu können inzwischen soweit aus, daß sie mich / Petra auch tagsüber mit Anrufen, wie z.B. :

"Heute morgen war die Situation wieder absolut dramatisch, Papa hat gerade .. dies oder das gemacht / gesagt und ist (wie immer wegen seines Geldes) völlig außer sich und wütend auf mich. Ich bin noch in der Schule, traue mich gar nicht nach Hause ... und hab' jetzt keine Zeit und muß auflegen, wir reden ein andermal weiter, tschüss....."
Kaum / keine Chance zu antworten, geschweige denn, eine weiterführende Diskussion anzufangen. -- Sie hat gerade keine Zeit. -
Auch auf spontane Angebote, "ich lasse Arbeit Arbeit sein und fahre nach Hause, damit wir uns sofort treffen und reden können" meistens nur die Reaktion :"Nee, ich habe gleich einen (privaten !) Termin, ich melde mich später". --- Zu 95% bleibt das "sich melden" jedoch aus und wir, absolut hängengelassen, spekulieren, was wohl los ist, was zu tun sein könnte usw.

Tagsüber folgen auf solche Anrufe endlose Telefonate zwischen Petra und mir, in unserer Freizeit endlose Diskussionen, meistens ist für uns dann auch der Abend "gründlich versaut".
Oft genug kriegen wir uns auch noch gründlich "in die Wolle", weil wir mit dieser Situation einfach nicht umgehen können.
Ganz oft hat sich aber auch, nachdem einer von uns, nach Umverlegen von Terminen, Unterbringung der Kinder o.ä., dann zu meinen Eltern ging, herausgestellt, daß die Situation im Hause meiner Eltern bereits bei Rückkehr meiner Mutter völlig entspannt war. --- Wir hatten aber (unnötige) Stunden der Unruhen und Ängste ... ---

Aus (falscher) Rücksicht meiner Mutter gegenüber, damit sie nicht noch mehr Belastungen tragen muß etc., konnten wir ihr unsere Sorgen und Gefühle nicht mitteilen.

Wir bringen es nicht fertig Kritik zu üben, weil sie in der jetzigen Situation überhaupt nicht kritikfähig ist.
Wir fressen also alles in uns hinein und versuchen, "es" zwischen uns (Petra und mir) zu "regeln".

Vor etwa drei Wochen jedoch "war der Mülleimer voll".

Bislang war meine Frau stark, wenn ich schwach war.
Inzwischen stellte ich bei mir jedoch echte psychische Probleme fest, die sich in Depressionen, Niedergeschlagenheit, Krankheitsgefühl.... äußerten und oft bei Nebensächlichkeiten auftraten (Wohl der berühmte Tropfen im Faß...).
Petra steht seit einer Woche (mindestens zwei Meter) völlig neben sich.

In dieser Situation haben wir es Anfang November, nachdem wir darüber bereits oft andeutungsweise nachgedacht hatten, endlich geschafft, uns selbst helfen zu lassen.
Nach langem Gespräch mit der "Moderatorin" der hiesigen Alzheimer-Angehörigen-Selbsthifegruppe (sie ist zugleich Leiterin des wirklich außerordentlichen Pflegeheimes "Haus Schwansen") konnte ich endlich, wenn auch zunächst "im Schutz" der Gespächsrunde der Selbsthilfegruppe, meiner Mutter "einen groben Überblick" über unser eigenes Seelenleben darstellen und klarstellen, daß sich unser Umgang ändern muß.
Denn nur wenn wir einen gemeinsamen Weg zum Umgang mit dieser Situation finden, kann unser Haus (und Telefon) auch weiterhin für sie offen bleiben und auch nur dann können wir alle drei auch gemeinsam und (hoffentlich) wirkungsvoll helfen.

Leider hat sich meine Mutter erst nach "deutlichem Druck" durch uns dazu bewegen lassen, hierüber mit uns zu sprechen.
Sie gab zu erkennen, daß sie sich mit weiteren ("unseren") Problemen eigentlich nicht belasten will / kann, da ihre Situation schon schlimm genug ist.
Nur mit Mühe konnten wir ihr (hoffentlich) klarmachen, daß es nicht allein um uns, sondern um einen für uns gangbaren Weg ihr zu helfen und damit auch und vor allem um sie geht.

Bei der darauffolgenden Gesprächsrunde der Angehörigen war sie nicht dabei.
Als ich meine Eltern danach aufsuchte sagte sie, daß sie sich an diesem Tag der Runde nicht gewachsen fühlte (!!!), dabei hat sie seit knapp 2 Jahren nicht ein einziges Mal diese Gelegenheit, "Probleme abzuladen", versäumt !
Wenigstens ging es meinen Eltern anscheinend recht gut, sie wollten abends sogar gemeinsam ein Konzert besuchen und mein Vater war freiwillig dazu bereit, "gute" (und vor allem frische) Sachen anzuziehen.

Ich kann nur hoffen, daß wir es schaffen, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden die es uns erlaubt, offen und vorbehaltlos miteinander umzugehen damit wir das, was die Zukunft uns noch abverlangen wird, gemeinsam (er-) tragen können.

Meinem Vater wünsche ich, daß er noch möglichst lange so locker und scheinbar entspannt bleibt, wie ich ihn heute abend erleben durfte.

Mal sehen, was morgen kommt ........

Im November 1999

© Jochen Schulze für die

 

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