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Vernunft in Unvernunft erkennen

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Im Umgang mit "unverständlichen" Äußerungen Demenz-Kranker hat es sich bewährt, die gefühlsmäßige Botschaft herauszuhören. J. Becker plädiert darüber hinaus für den Versuch, primär unvernünftig erscheinende Aussagen und Verhaltensweisen der Patienten als "richtig" anzusehen und sich so neue Kooperationsweisen zu erschließen.

Als Beispiel erwähnt die Darmstädter Ärztin eine schwer demente Patientin, die durch folgendes Verhalten "schwierig" erschien: Sie war nachts unruhig und zog sich die Windel aus, die sie aus Sicherheitsgründen trug. Sie näßte ein und zog ihre Bettwäsche ab. Sie räumte ihren Schrank vollständig aus, so daß alles auf dem Boden herumlag. Dann schlief sie unter dem Bett weiter, ohne Hilfe herbeizurufen.

Üblicherweise würde man dies als schwere Verwirrtheit interpretieren. J. Becker schlägt dagegen vor, dem beschriebenen Verhalten Logik zuzubilligen und folgende Zusammenhänge zu unterstellen: Die Patientin verstand den Sinn einer Windel für Erwachsene nicht und sah darin eher eine Unterhose, die man bei Harndrang auszieht. Anders wußte sie sich nicht zu helfen und näßte daher ein. Folgerichtig zog sie jedoch anschließend das nasse Bettzeug ab, wie sie es aus ihrer Zeit als Hausfrau gewohnt war. Sie räumte den kompletten Schrank aus, um darin vergeblich nach frischem Bettzeug zu suchen. Ermüdet legte sie sich schließlich vor ihr Bett, weil dieses noch immer beschmutzt und nicht wieder hergerichtet war.

Vermutlich wird sich nie entscheiden lassen, welche der beiden Versionen "richtig" ist. Die zweitgenannte setzt allerdings die Bereitschaft und den Willen voraus, entsprechende Deutungen zu erarbeiten, während im zuerst genannten Fall immer das Globaletikett "verrückt" bzw. "unvernünftig" paßt. Die Alternative zwei ist also anstrengender. Auch verändert sie die Beurteilung der Kranken, da man ihnen zubilligt, zumindest auf die Folgen ihrer Erkrankung großenteils vernünftig (also für andere logisch nachvollziehbar) zu reagieren.

Vernunft mißt sich immer am Bezugsrahmen

Die Autorin weist darauf hin, daß "unvernünftiges Handeln" auch Gesunden vertraut ist. Beispielhaft erwähnt sie das plötzliche Vergessen einer Absicht ("Man geht in die Küche und weiß nicht mehr, was man dort wollte"). Gesunde behelfen sich in solchen Situationen, indem sie an den Ausgangspunkt ihrer Handlungskette zurückkehren, weil sie hoffen, sich dort besser erinnern zu können. Ähnlich kann man vielleicht auch Demenz-Kranken helfen, indem man ihnen durch geeignete Schlüsselreize den Anfang eines Handlungsfadens anbietet.

Viele Schwierigkeiten im Umgang mit Demenz-Kranken sind nach Ansicht der Autorin auf die Erwartung zurückzuführen, daß sie sich ihrer neuen Umwelt (dem Pflegeheim) anpassen, also entsprechend "vernünftig" handeln. Manche Mißverständnisse und Konflikte würden sich vielleicht erledigen, wenn man ihnen zubilligt, daß sie sich durchaus "vernünftig" verhalten, nur eben im Hinblick auf völlig andere (nämlich alte!) Rahmenbedingungen.

J. Becker: Demente alte Menschen betreuen - sich das Rätselhafte verständlich machen. Psy. Pflege 1996 (2) 80-83


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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