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Ein besonderer Tag

Ich war bei meiner Tochter zu Besuch. Es roch gut nach Essen und der junge Mann, der zu ihr gehörte, hatte mir freundlich die Jacke abgenommen. Ich war ein bisschen aufgeregt, denn wie immer, hat mich meine Tochter lange warten lassen, dabei war ich schon lange reisebereit. So waren die Minuten verstrichen und ich lief in meiner Wohnung unruhig auf und ab und schaute zig Mal nach, ob ich denn alles dabei habe. Irgendwann war ich über diese endlose Warterei so verärgert, dass, als sie vor meiner Tür stand, ich am liebsten gar nicht mehr mitgegangen wäre. Ich weiß, ich bin sowieso nur geduldet und eigentlich würde meine Tochter ihre Zeit lieber mit Anderen verbringen. Da stand sie nun an meiner Tür. „Mama, kommst Du?“ - „Ach, ihr redet doch nur wieder von eueren Urlauben und Leuten, die ich nicht kenne.“ Meine Tochter fasste mich an Hand und sah mich beschwörend an.

Dann ging sie einfach an mir vorbei, in die Küche, in das Wohnzimmer, in das Schlafzimmer, in das Bad, was mich wiederum ärgerte. Immer diese Kontrollen, als wäre meine Wohnung nicht sauber und ich könnte keine Ordnung halten. „Alles okay“, sagte sie, „komm, heute ist ein besonderer Tag und es gibt Leckeres zu essen. Thomas und die Katzen warten schon auf dich.“ Sie nahm mich an der Hand, so wie man es mit kleinen Kindern tut und zog mich aus der Tür. Wie gut, dass mir noch einfiel, unbedingt meine Handtasche und den Haustürschlüssel mit dem großen Stoffhasen dran, mitzunehmen. Sie meint nämlich, ich würde ihn sonst verlegen, was natürlich Unsinn ist. Dass der Schlüssel neulich bei den Kartoffeln im Keller lag und ich ihn einfach nicht fand, das war bestimmt ein böser Streich meiner Tochter. So kann sie mich gegenüber Fremden beschuldigen und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin eben schutzlos ohne meinen Mann und werde älter. Wenn mein Mann noch da wäre, wäre alles ganz anders. Aber so, alleine, muss ich auf der Hut sein, dass meine Tochter mir nicht alles wegnimmt.

Neulich wollte sie mit viel Gerede eine Unterschrift von mir, zum Schluss hat sie sogar deswegen geheult, das hat mich sehr traurig gemacht. Sie hat zwar versucht mir was zu erklären, aber das war so kompliziert, ich habe das einfach nicht verstanden. Die jungen Frauen sind heute anders. Sie verstehen so viel von Wirtschaft und Juristerei, sie sind clever und wissen, was man tun soll. Das alles hat ein Leben lang mein Mann für mich getan, warum soll ich es jetzt ändern. Ich bin einige Tage später mit meiner Tochter in ein Büro gegangen, sie sagte, um Dinge zu regeln, falls mal was wäre mit mir. Gut, dachte ich, wenn sie meint, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Es war schon seltsam dort. Wir haben ziemlich lange auf Stühlen gesessen und niemand kam. Da mir Zeitungen nichts sagen, habe ich mich umgeschaut. Hatte ich meine Brille an ? Auf jeden Fall entdeckte ich ein Schild, was mir einen Heidenschrecken einflösste. Laut flüsternd las ich: „Notarztsekretariat, was machen wir denn hier?“, fragte ich innerlich vor Angst bebend auf was ich mich da eingelassen hatte. „Aber Mama, nicht Notarzt! Wir sind hier beim Notar, da haben wir doch drüber gesprochen.“ Meine Tochter hat immer so eine Art an sich, etwas so zu behaupten, dass ich zwangsläufig das Gefühl habe, ich kann jetzt nichts Anderes sagen, obwohl ich genau weiß, wir haben nicht darüber gesprochen.

Das Ganze war dann eine ziemlich langweilige Sache. Ein älterer Herr machte mir Komplimente und rückte mir den Stuhl zurecht. Statt mir jedoch ein Getränk anzubieten, las er eine lange Abhandlung vor, die mich völlig zum Einschläfern brachte. Irgendwann fragte dann der Mann: „Haben Sie das alles verstanden?“ Mitten im Dösen aufgeschreckt, hat er mich da ganz peinlich erwischt. Oh, das war unangenehm, aber als Herrin der Lage, sagte ich: „Ja, ja, alles verstanden“, woraufhin der Mann sichtlich erleichtert brummelte, „Na, dann wollen wir das mal glauben.“ Er schob mir ein Blatt Papier zu, auf dem ich unterschreiben sollte. Komisch, meine Tochter sah im Gesicht eher quittengelb aus und machte den Eindruck als würde sie gleich im Erdboden versinken. Warum, dachte ich, ist sie wieder so aufgelöst? Sehr ordentlich habe ich dann auf dem Papier unterschrieben und damit waren offensichtlich alle zufrieden. Meine Tochter weiß doch, dass auf mich Verlass ist.

Nun stand ich also in der Wohnung meiner Tochter, die Handtasche mit dem Hasenschlüssel fest in den Händen. Thomas, so heißt der junge Mann, glaube ich, zeigte mir einen Stuhl, auf den ich mich setzen sollte und wollte mir die Handtasche abnehmen.

„Nein“, sagte ich denn ich trage meine wichtigen Sachen immer bei mir. Meine Tochter war geschäftig in der Küche verschwunden und ich hörte das vertraute Scheppern von Töpfen. Diesem Geräusch folgend, stand ich kurz darauf auch in der Küche und bot meine Hilfe an. „Mama“ sagte sie, „es ist eigentlich alles fertig. Setze dich doch. Was magst du denn trinken?“ Also ging ich wieder aus der Küche und schaute mir den Tisch an, denn ich wollte nicht nur nutzlos herumstehen, sondern etwas helfen.

Meine Tochter ist ganz anders als ich. Ich habe meine Wohnung immer eher sparsam und praktisch gehalten. Bei ihr stehen viele Sachen herum. Staubfänger, wenn mich jemand nach meiner Meinung fragt. Der Esstisch war mit vielen Sachen beladen und einige musste ich einfach in die Hand nehmen. Da waren gezackte, silberne Plättchen, glänzende Kugeln, ein Gartenzwerg mit einem Bart. Zu guter Letzt hatte meine Tochter offensichtlich Zweige aus dem Gartenmüll auf den Tisch gelegt, was dieses Durcheinander nur komplett machte. Die Essteller waren unter Bildern verborgen und so machte ich mich daran, den Tisch auf Vordermann zu bringen. Als ich den Gartenmüll zusammengepackt hatte und mit dem Arm voll in der Küche stand, um meine Tochter zu fragen, wohin damit, schaute sie mich komisch an. „Aber Mama, das ist Dekoration, weißt Du denn nicht, was das ist?“ So eine dumme Frage, fand ich ehrlich, Was sollte dieses Grünzeugs auf dem Tisch? Dann sagte sie: „Gut Mama, räumen wir das weg. Warum auch Tannenzweige auf dem Tisch, wenn sie an Bäume gehören.“ Gott sei Dank, dachte ich, sie sieht ein, dass ich recht habe.
Dann setzten wir uns an den Tisch und Thomas schenkte uns allen ein Glas Wein ein. Meine Tochter kam sofort mit Wasser dazu. Spielverderber, war mein Gedanke und schaute mich nach den Katzen um. Tatsächlich entdeckte ich den großen, zutraulichen Kater, der am Esszimmereck eine gemütliche Pose eingenommen hatte. „Na, schöner Bub“ lobte ich ihn und ging auf ihn zu. „Du bist ein lieber, schöner Bub, gelle!“ wiederholte ich. Der Kater bleib bewegungslos liegen und zum Esstisch blickend, erlebte ich meine Tochter zum ersten Mal an diesem Abend lachend. „Mami“, feixte sie, „nun bist Du aber einer dicken Ente aufgesessen! Das ist nicht unser dickes Katerchen. Das ist meine schwarze Handtasche.“ Immer muss sie sich auf meine Kosten amüsieren, dabei ist es wirklich dunkel in der Wohnung. Kann ich etwas dafür, wenn sie Strom sparen will und statt Licht nur Kerzen anmacht?

Mittlerweile hatte Thomas kleine, belegte Brötchen auf die Teller gepackt und ich war froh, dass es endlich etwas zu essen gab. Ich kam mir vor, als hätte ich ewig nicht gegessen und hub das Brötchen mit gutem Appetit an. Irgendetwas fiel in diesem Moment an mir vorbei. Was, sah ich aber nicht, aber den Blick meiner Tochter, der mir immer und überallhin zu folgen scheint. Nach dem ersten Bissen, der verlockend schmeckte, konnte ich es mir als alte Hausfrau nicht verkneifen mir dieses Brötchen näher ansehen zu wollen. So klappte ich den Brötchendeckel auf, um einen grünen Belag vorzufinden. „Oh, ein Blattsalatbrötchen“ konstatierte ich und klappte den Deckel zufrieden wieder herunter.
Sekunden später benahmen sich Thomas und meine Tochter sehr merkwürdig. Plötzlich wurde richtiges Licht angemacht und die Beiden robbten auf Knien um den Esstisch und um mich herum, was mich allerdings nicht davon abhielt, meine Vorspeise weiter zu vertilgen. Mit hochrotem Kopf tauchte meine Tochter wieder am Stuhl neben mir auf, indes Thomas ein bläulich-weißes Schlabberdings triumphierend in die Küche trug. Nach kurzer Zeit kam er damit wieder zurück. „Mama, gib mir dein Brötchen!“, bat mich meine Tochter, als wäre etwas verkehrt daran. Irritiert überließ ich ihr mein Salatbrötchen und sie legte das bläulich-weiße Etwas mitten auf mein Brötchen. „Mama, das ist ein Fischbrötchen!“ Ich will mich nicht streiten, also habe ich das Brötchen so aufgegessen. Schlecht hat es nicht geschmeckt und ich muss sagen, der Rest war essbar.

Der Abend wurde dann richtig schön. Endlich war das Essen vorüber und Thomas holte die Gitarre. Gesungen habe ich immer schon gerne und so haben wir alle Lieder gesungen, die ich schon lange kenne. Das war schön.

Meine Handtasche hielt ich fest neben mir. Ich hasse Suchen.

Wer jeden Tag zu Hause ist, wie ich jetzt als Rentnerin, der kennt das Gefühl, das Wochentage verfließen und egal werden. Ich hatte das Gefühl, dass heute etwas Besonderes war und so fragte ich Thomas: „Was ist eigentlich heute für ein Tag?“ Daraufhin mischte sich meine Tochter ein und fragte mich vollkommen abwegig: „Mama, an welchem Tag wurde Jesus Christus geboren?“ Das ist wieder typisch. Da fragt sie mich überraschend so eine Art Preisfrage, als wäre ich eine Auskunftei. Rein aus Protest antwortete ich: „Woher soll ich denn das wissen?“ - „Heute ist Heiligabend und jetzt machen wir Bescherung.“

Ich erhielt drei Päckchen, die bunt umwickelt waren. Vorsichtig schob ich sie hin – und her. Ich schaute meiner Tochter und dem Mann zu, wie sie vor sich Papier aufschichteten und sich sichtlich freuten. Da freute ich mich mit. „Mama, willst Du deine Geschenke nicht auspacken, komm, wir machen das zusammen.“ Erleichtert stimmte ich zu, denn genau genommen wollte ich diese schönen Päckchen nicht kaputt machen. Sie sahen einfach so fertig und perfekt aus. Wo hätte ich sie anfassen sollen? Als erstes erschien ein Flasche und sorgsam las ich – A l a r m –. „Du Mama“, sagte meine Tochter, „das ist ein Badezusatz und der heißt nicht Alarm sondern Allegorie.“ - „Aha“, sagte ich. Was im zweiten Paket war, weiß ich nicht mehr, aber im Dritten war ein schmales, goldenes Armband.

Meine Tochter sagte: „Schau mal, das ist doch viel moderner und leichter als das breite Armband. Willst Du es nicht ausprobieren?“ Gesagt, getan und so hatte meine Tochter mein breites, goldenes Armband in der Hand, um mir dieses Ding an das Gelenk zu ziehen.

Etwas unglücklich, weil ich mein breites Armband liebe – ein Erinnerungsstück an meinen Mann- besah ich mir dieses neue Armband. Meine Tochter strahlte mich an.

„Und, gefällt es dir?“ Mein breites Armband war vom Tisch verschwunden. Das verursachte mir Panik, denn Geschenk hin oder her, wollte meine Tochter mir mein wertvolles Armband wegnehmen? Unruhig drehte ich den Kopf und stand auf. So hatten wir nicht gewettet.
„Ich will sofort mein Armband wieder!“, protestierte ich, „Dieses Armband hier ist nicht richtig. Wo ist mein Armband?“ Meine Tochter holte das Armband hinter ihrem Rücken hervor. „Ich will das da nicht, nimm es weg!“, sagte ich erschüttert. Wie konnte sie mir das antun? Mit großer Erleichterung hatte ich mittlerweile mein Armband wieder an und beobachtete, wie meine Tochter das Andere zurück in seine Schachtel packte. „Hoffentlich nimmt der Juwelier das wieder zurück, war halt ein Versuch. Wenn das dicke Ding das nächste Mal verschwindet, soll es mir egal sein“, flüsterte meine Tochter Thomas zu. Ich habe das sehr wohl gehört.

Sie lässt keine Gelegenheit aus, um Anderen zu sagen, das ich manchmal etwas schusselig bin. Sie tut so, als würde ihr das nicht passieren. Dabei stand sie neulich vor verschlossener Wohnungstür, weil ich sie angeblich so durcheinander gebracht habe. Ich habe das Gefühl, ich bin immer gut als Blitzableiter.

Nach diesem anstrengenden Abend, bat ich darum, nach Hause gebracht zu werden. Die Zwei gingen mit mir die Treppe hinunter und meine Tochter schloss mit dem Hasenschlüssel auf.

„Hier wohne ich?“ Die ganze Wohnung kam mir nicht bekannt vor. Das war wohl einen neue Finte. „Ja, Mamilein, das ist deine Wohnung. Wir wohnen doch jetzt seit einem Jahr in diesem Haus.“ Ein paar Dinge kamen mir bekannt vor und so machte ich einen mutigen Schritt in diese Wohnung. „Habe ich auch ein Bett?“ wollte ich wissen.

Es schauderte mich in dieser unbekannten Wohnung alleine zu bleiben. Warum sagten sie mir nicht, dass es zu spät sei, um mich nach Hause zu bringen? „Mama, hier ist dein Schlafzimmer, dein Bett, das kennst du doch!“ - „Ja“, musste ich zugeben, obwohl mich bei dem Anblick diese fremden Raumes ungeheuer große Angst ergriff. „Wo bin ich denn hier?“, wollte ich nochmals wissen.

„Wir sind hier in deinem Zuhause!“

„Ich will nach Schlüchtern, ich will zu meiner Schwester, ich will Nachhause, hier bleibe ich nicht“, hörte ich mich sagen. Stoisch beharrte meine Tochter darauf, dass dies mein Heim wäre und wir jetzt schon gar nicht nach Schlüchtern könnten. Morgen oder in den nächsten Tagen, erwiderte meine Tochter. Ich war so bestürzt in diesem Moment, so verlassen, so ausgeliefert, dass ich anfing zu weinen. Meine Tochter setzte sich behutsam neben mich, streichelte mich und nahm mich in den Arm. „Mama, wir sind doch hier zusammen, Tür an Tür, wo hätten wir es denn besser. Schau mal, ich bin immer für dich da, Thomas ist da. Was willst Du denn in Schlüchtern ?“ So langsam beruhigte ich mich wieder. „Stimmt“, dachte ich. In Schlüchtern wäre meine Tochter nicht da.

„Ich habe dich lieb Marina“; sagte ich und, „Was ist morgen für ein Tag?“

Ich weiß nicht warum, aber da fing meine Tochter an zu schluchzen. „Aber Kind, wer hat dir denn etwas getan? Du weißt doch, du bist mein Ein und Alles“ und dann habe ich sie umarmt und für eine lange Minute schien es, als würde die Zeit still stehen aus Achtung vor der Liebe und der Hoffnung und als gäbe es keinen Feind und niemals Angst.

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Ich widme die Geschichte in großer Achtung und Liebe meiner Mutter Nelli, die 1995 mit der Diagnose Alzheimer in eine ungewisse, gewisse Zukunft geht, denn es gibt heute keine Waffe gegen den Feind. Sie ist heute 74 Jahre alt und nur noch ihr Schatten.

Alles was ich geschrieben habe ist wahr und hat sich so oder sehr ähnlich zugetragen. Wie wahr, weiß jeder, der es selbst täglich erlebt.

Ich widme diese Geschichte aber auch den großherzigsten und engagiertesten Menschen, die ich in diesem Zusammenhang jemals kennen gelernt habe.

Den Listlingen der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V., die tagtäglich den Kampf mit diesem Feind führen, deren Herzen gebrannt, deren Seelen geprellt werden und die trotzdem am nächsten Tag wieder den Marathon antreten und dabei allenfalls die Stufen begleiten können, vielleicht um dabei etwas über uns Menschen selbst zu lernen, wofür es auch ein Morgen gibt.

Allen voran meinen ganz speziellen Freunden, die es wissen und Gabriele Steininger, für die ich diese Geschichte jetzt zu Ende gebracht habe.

1. Advent 2002
Marina Frischkorn


 

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